"Ein historischer Erfolg der Menschenrechtsbewegung"
15. Juni 2005DW-WORLD: Der Oberste Gerichtshof Argentiniens hat die Amnestiegesetze für Menschenrechtsverbrechen zur Zeit der Militärdiktatur (1976-1983) für verfassungswidrig erklärt. Was bedeutet das Urteil?
Wolfgang Kaleck: Alle haben auf diese Entscheidung gewartet. Die ist jetzt mit sieben zu eins Stimmen gefallen, mit einer überwältigenden Mehrheit. Damit ist juristisch der Weg frei für eine umfassende Strafverfolgung der noch lebenden Militärs.
Warum hat das so lange gedauert?
Es ist ja jetzt zwei Jahre her, dass der argentinische Kongress entschieden hat, die Amnestiegesetze historisch und rückwirkend für nicht anwendbar zu erklären. Das war kurz nachdem Kirchner Präsident geworden war. Das lag nun die ganze Zeit beim obersten argentinischen Gericht. Mit der Entscheidung hat das hat so lange gedauert, da der Gerichtshof nach dem Regierungswechsel noch mit Richtern der Menem-Zeit besetzt war und er personell umbesetzt wurde.
Haben Sie schon Reaktionen aus Argentinien einholen können?
Klar, Alle sind hochzufrieden. Es ist vollkommen klar, dass ein historischer Erfolg der Menschenrechtsbewegung gefeiert wird und dass alle darauf gewartet haben. Die ausstehende Entscheidung war einfach eine Blockade in dem ganzen juristischen Verfahren. Die Menschenrechtsbewegung kann sich den Erfolg an das eigene Revers heften, die haben das mit eigenen Kräften geschafft.
Wird es jetzt eine neue Welle von Prozessen gegen Militärs geben?
Die Welle bahnte sich ja schon an. Teilweise sind Gerichte nach der Entscheidung des Kongresses schon vorgeprescht und hatten angefangen zu ermitteln. Es sind auch schon Militärs in Untersuchungshaft genommen worden. Andere wurden unter Hausarrest gestellt. Da ist in den letzten zwei Jahren schon einiges passiert. Aber über allem hing wie ein Damoklesschwert die Frage: Greifen nicht doch die Straffreiheits- und Amnestiegesetze? Diese Frage ist jetzt durch den Obersten Gerichtshof geklärt. Die Wege sind geebnet für die justizielle Aufarbeitung der Vergangenheit. Es hat sehr, sehr viele Gerichte gegeben, die auf diese Entscheidung gewartet hatte.
Hat die Entscheidung des Obersten Gerichts auch Auswirkungen auf die Fälle der Deutschen bzw. Deutschstämmigen?
Das ist jetzt meine letzte Sorge, denn unser ganz großes Ziel war in den letzten sieben Jahren gewesen, die Straflosigkeit in Argentinien zu beenden. Wir fühlen uns als Teil dieser doch weltweiten Bewegung und mich freut es erst einmal was da in Argentinien passiert ist. Wir werden solange an den deutschen Strafverfahren arbeiten, wie es Sinn macht, die deutsche Justiz anzuhalten, Beweismittel zu sammeln, Zwischenentscheidungen zu treffen. Wir werden zum Beispiel weiter insistieren, das Verfahren gegen den Mercedes-Manager Tasselkraut fortzuführen. Hier ist man in Deutschland schon viel weiter, als im entsprechenden argentinischen Ermittlungsverfahren. Wir werden solange weiterarbeiten, bis wir von unseren Freunden und Kollegen aus Argentinien das Signal bekommen, dass es dort so läuft, dass alles abgegeben werden kann. Das muss man in den nächsten Wochen sehen.
Wie sieht es mit den Auslieferungsanträgen gegen die Junta-Mitglieder Videla oder Massera aus, die die Bundesregierung gestellt hat? Machen die noch Sinn?
Hier stellt sich natürlich die Frage, wie viel Sinn das noch macht. Meiner Meinung nach macht es aber noch Sinn: Mit dem Wegfall der Hindernisse der Strafverfolgung ist ja noch nicht gesagt, dass mit der nötigen Geschwindigkeit und mit Nachdruck Ermittlungen weiter betrieben werden. Der Justizapparat in Argentinien ist nach wie vor von reaktionären und korrupten Kräften durchsetzt. Da haben wir alle jetzt die Hoffnung, dass sich die menschenrechtsfreundlichen Kräfte durchsetzen und mit genügend materiellen und personellen Mitteln ausgestatte werden, um das zu bewältigen.
Wie stark sind noch die Kräfte in Argentinien, die sich gegen die Wiederaufnahme der Prozesse stellen?
Eine stärkeres Signal als eine sieben zu eins Entscheidung des Obersten Gerichtshofs kann man sich nicht erwarten. Die Zeiten haben sich in Argentinien geändert. Punkt. Das ermutigende daran ist, es ist einer sehr starken, von vielen Bevölkerungsgruppen gespeisten Menschenrechtsbewegung zu verdanken, dass es zu diesem Urteil gekommen ist. Es ist nicht eine Entscheidung von Gerichten, die findige Juristen erfochten haben oder die eines weisen Präsidenten. Nein es ist eine Bewegung, die so stark war, dass einem Präsident, der sicherlich dem ganzen auch sehr sympatisierend gegenübersteht, dieses Thema politisch opportun und so wichtig erschien, dass er ihm auch eine so große Priorität gegeben hat. Aber es ist eine historische Entscheidung. Für mich zeigt das noch mal, wie wichtig es ist, sich dem Thema Straflosigkeit und Vergangenheitsaufarbeitung zu stellen. Es ist nicht so, dass alles irgendwann einmal vergessen und vergeben ist. Solange das Schicksal der Verschwundenen nicht aufgeklärt ist und solange die Verantwortlichen nicht vor Gericht gezogen werden, wird es keine Ruhe geben.
Wolfgang Kaleck arbeitet als Anwalt in Berlin und ist einer der wichtigsten Vertreter der "Koalition gegen Straflosigkeit"