Ein Engel für Indiens Straßenkinder
6. Februar 2017Für Santosh ist die Begegnung mit Pater Thomas Koshy der Wendepunkt seines Lebens. Ihm verdankt er eigentlich alles. Dass er heute glücklich verheiratet und zweifacher Familienvater ist, gerade seinen Doktortitel macht und einen Beruf ausübt, der ihn ausfüllt. Santosh hat es geschafft. Er hat den Sprung von den Straßen indischer Millionenstädte hinein in ein bürgerliches Leben gemeistert. Einen Sprung mit nur einem Bein. Denn Santosh hat keinen rechten Unterschenkel mehr. Und seine linke Hand fehlt. Der hohe Preis für ein gefährliches Spiel mit anderen Straßenjungs: Dabei geht es darum, auf anfahrende Züge aufzuspringen und dann zwischen den Waggons hin- und her zu hüpfen. Der Sieger bekommt ein paar Rupien als Belohnung. Santosh ist oft der Beste. Nur ein einziges Mal macht er einen Fehler, diesen einen fatalen Fehler. Er verschätzt sich – und wird vom Zug erfasst. Als er im staatlichen Krankenhaus aufwacht, ist er ein Krüppel.
Mit Hilfe eines Gehstocks schlägt er sich weiter durch, bettelt, versucht, mit Kunststücken ein bisschen Geld zu verdienen. Einmal, als er krank irgendwo in der Stadt Vijayawada im Bundesstaat Andhra Pradesh auf dem Boden liegt, findet ihn ein Sozialarbeiter des dortigen "Don Bosco Shelters" auf einem seiner Rundgänge und nimmt ihn mit. So lernt er wenig später Pater Koshy kennen. Der 66-jährige leitet damals die Einrichtung in Vijayawada – eine von insgesamt über 80 solcher Zufluchtsstätten, die die Salesianer Don Boscos landesweit betreiben. Schon seit 1906 engagieren sich Mitglieder der katholischen Ordensgemeinschaft in Indien für benachteiligte Kinder und Jugendliche.
Eine unvergessliche Begegnung
Nicht an alle, die er in dieser Zeit kennengelernt hat, kann sich Pater Koshy mit Namen erinnern. In den 25 Jahren, die er dort verbracht hat, haben er und seine Mitarbeiter allein in diesem einen "Shelter" über 60.000 Kinder und Jugendliche betreut. Aber die Geschichte von Santosh ist auch für ihn etwas ganz Besonderes. An das erste Aufeinandertreffen erinnert Pater Koshy sich genau. "Da stand dieser Junge mit langen, ungekämmten Haaren, vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt. Wann immer ich ein Kind treffe, strecke ich ihm die Hand aus und begrüße es. Oft lächelte das Kind dann spontan zurück und sagte auch Hallo. Aber dieser Junge lächelte nicht."
Düster habe Santosh – der sich zu dieser Zeit anders nannte, weil er mit seiner eigentlichen Identität nichts mehr zu tun haben wollte – ihn angeschaut. "Er konnte englisch sprechen, berichtete auf Nachfrage, dass er sieben Jahre zur Schule gegangen sei. Ich sagte ihm: Wir können dir ermöglichen, wieder zum Unterricht zu gehen. Aber er wollte nicht." Nein, Santosh lehnt das Angebot zunächst ab. Er hat kein Vertrauen, in niemanden. Doch dann entscheidet er sich um. Einen Tag später sitzt er im Klassenzimmer einer örtlichen Mittelschule. "Es war nicht leicht für mich, die Gewohnheiten der Straße abzulegen und mich wieder an Regeln und Disziplin zu gewöhnen. Ich habe ja gegen alles und jeden rebelliert."
Flucht vor Gewalt und seelischem Leid
Das Verhalten von Santosh, sein tief verwurzeltes Misstrauen, sei nicht ungewöhnlich, erklärt Pater Koshy. Gerade bei älteren Kindern, die teilweise schon jahrelang auf der Straße gelebt hätten, komme das oft vor. Immer wieder hätten die Sozialarbeiter, die mit geschultem Blick auf der Suche nach obdachlosen Kindern durch die Stadt gehen und beispielsweise an Bahnhöfen gezielt allein reisende Kinder ansprechen, damit zu kämpfen."Diese Jugendlichen vertrauen erst einmal keinem Erwachsenen, weil sie schlechte Erfahrungen gemacht haben, geschlagen und missbraucht wurden. Oft innerhalb des engsten Umfelds. Kinder, die gerade erst mit dem Zug irgendwo aus der Provinz angekommen sind und sich noch keine 'Straßen-Schläue' angeeignet haben, sind dagegen eher bereit, das Angebot anzunehmen und mitzukommen. Sie sind verloren, haben oft auch schlicht Hunger. Und bei uns gibt es warme Mahlzeiten und ein Dach über dem Kopf."
Wie viele Straßenkinder es genau gibt in Indien, das weiß niemand. Schätzungen zufolge sollen es mindestens zehn Millionen sein, die jüngsten gerade einmal fünf oder sechs Jahre alt. Die Mehrheit von ihnen sind keine Waisenkinder, sondern von zu Hause ausgerissen, berichtet Pater Koshy. "Sicher spielt auch Armut im Hintergrund eine Rolle. Aber der eigentliche Auslöser ist Gewalt im Elternhaus. Da kommt irgendwann ein Punkt, an dem die Kinder es nicht mehr ertragen können."
Vom Straßenkind zum Musterschüler
Genauso ist es auch bei Santosh. "Mein Vater hat mich oft windelweich geprügelt", sagt er. Per Zug flieht er aus seiner Heimatstadt Hyderabad. Millionen Kinder machen es so wie er, es ist die einfachste Art, sich im Land auch ohne Geld über weite Strecken voran zu bewegen. In der Einrichtung von Don Bosco erfährt der Junge das, was er bei seiner Familie vermisst hat: Liebe und Unterstützung. Er fasst Selbstvertrauen, spielt mit seinen neu organisierten Prothesen Cricket und engagiert sich schließlich selbst für andere. Als sogenannter "'Peer leader".
"Das sind Jugendliche, die schon eine Weile bei uns sind", erklärt Pater Koshy. "Wir bilden sie aus, die Sozialarbeiter bei ihren Streifzügen durch die Stadt zu begleiten. Denn oft gelingt es ihnen schneller, eine Verbindung zu den gestrandeten Kindern aufzubauen. Sie machen einen tollen Job, und dadurch, dass sie im selben Alter oder nur wenig älter sind als diejenigen, die sie auf der Straße ansprechen, ist es leichter für sie, das Vertrauen der Straßenkinder zu gewinnen. "
Und daneben sind die Jugendlichen auch durch die übertragene Verantwortung besonders motiviert, weil sie das Gefühl haben, eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, wertvoll zu sein. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben. Santosh jedenfalls blüht auf. Er schließt die Schule als Klassenbester ab, schafft den Sprung aufs College und absolviert einen Bachelor-Studiengang in Computer-Wissenschaften. Danach setzt er noch einen Master drauf: in Sozialarbeit. Den Kontakt zu Pater Koshy lässt er über die Jahre nie abreißen.
Nur eine Erfolgsgeschichte von vielen
Wenn man Pater Koshy mit seiner warmen Stimme und der ruhigen Art zu reden zuhört, dann fällt es leicht, sich vorzustellen, dass er der Mensch ist, der seinen "entwurzelten" Kindern, wie er sie beschreibt, wieder neuen Halt gibt. Und sicheren Boden unter den Füßen. Eine Lobby haben Straßenkinder in Indien nicht, sagt er. Zwar gibt es auf Bundesebene das Ministerium für Frauen und Kinder, das offiziell zuständig ist. Und auch in den einzelnen Bundesstaaten gibt es jeweils ähnliche Stellen. Doch das Budget sei viel zu klein. Es gebe auch NGOs, die sich speziell für Straßenkinder einsetzen würden. Doch alles in allem sei das viel zu wenig.
Dazu kommt der schlechte Ruf der Straßenkinder. "Diese Kinder gelten als kleine Halunken oder Gauner. Man verbindet lauter negative Attribute mit ihnen." Pater Koshy tut das weh. Er möchte das schlechte Image der Straßenkinder verbessern. Erfolgsgeschichten wie die von Santosh seien keine Seltenheit, sagt er. Es gebe tausende solcher Fälle. In der Obhut der Salesianer bekommen die Kinder die Chance auf einen neuen Start ins Leben. Mit Hilfe von Spenden und öffentlichen Mitteln können sie zur Schule gehen oder auch praktisches Berufstraining bekommen. "Danach sind sie praktisch sofort einsetzbar und können auf eigenen Beinen stehen", berichtet Pater Koshy stolz.
Zurück zu Don Bosco
Mittlerweile ist er nicht mehr Leiter der Einrichtung in Vijayawada, sondern Direktor des Nationalen Don Bosco Forums für gefährdete Kinder und Jugendliche. Während seiner Zeit dort bekamen allein in dieser Einrichtung 20.000 Kinder und Jugendliche eine Schul- oder Berufsausbildung. Weitere 25.000 fanden mit Hilfe der Salesianer zurück zu ihren Eltern – wenn die Verhältnisse zu Hause es zuließen und die Kinder es wollten.
Natürlich, so räumt er ein, geht die Geschichte nicht bei allen so glücklich aus. "Es gibt auch viele Kinder, die einfach durch jedes Raster fallen. Die nie bei uns oder einer NGO landen. Oder diejenigen, die zu uns kommen und dann einfach nach einem oder zwei Tagen wieder verschwinden."
Santosh ist nicht verschwunden. Er hat nur die Seiten gewechselt, ist endgültig vom Hilfsbedürftigen zum Helfer geworden. Nach dem Universitätsabschluss arbeitet er für eine Stiftung, die sich für benachteiligte und körperbehinderte Menschen einsetzt. Irgendwann erfährt er von Pater Koshy, den er liebevoll "Papa" nennt, dass ein Leiter für eine neue Don Bosco-Einrichtung gesucht wird. Ausgerechnet in der Stadt, in der er als Kind bei dem Zugunfall Hand und Unterschenkel verlor. Santosh habe keine Sekunde gezögert, sagt Pater Koshy und lächelt. "Er sagte nur: Ich übernehme den Job."