Ein Beatmungsgerät bauen? Ja, das geht!
27. März 2020Mikroplastik, das ist der Stoff, mit dem sich die Physikerin Caroline Sommer normalerweise beschäftigt. An der Universität Marburg forscht die Doktorandin an physikalischen Verfahren, um die für Mensch und Umwelt schädlichen Kleinstpartikel in Sedimenten ausfindig zu machen. Doch die Krise hat auch in Marburg alles verändert. Seit zwei Wochen arbeitet die 25-Jährige unter der Leitung ihres Professors Martin Koch mit Wissenschaftlern aus der Medizin und der Medizintechnik unter Hochdruck daran, ein Beatmungsgerät zu entwickeln, das mit wenigen Mitteln weltweit nachgebaut und eingesetzt werden kann.
Der Anstoß für"The Breathing Project" kam von einem Gastwissenschaftler aus Mexiko, der derzeit am selben Institut wie Caroline Sommer arbeitet. "Die Idee war, dass man möglichst einfache Geräte konzipiert, die nicht nur für technisch gut aufgestellte Länder, wie es in Deutschland der Fall ist, produziert werden können, sondern auch mit Blick auf Südamerika oder Entwicklungsländer in Afrika", berichtet die Doktorandin, die dafür blitzschnell umdenken und sich einarbeiten musste. "Wir sind ja nur Physiker, wir sind keine Spezialisten auf dem Gebiet der Beatmung."
Hilfe aus anderen Instituten
Die Physiker wissen dafür, wie man Bauteile verbindet, wie man lötet und programmiert. Zudem fanden sich innerhalb von zwei Tagen an der Universität weitere Spezialisten aus den Fachrichtungen Medizin, Medizintechnik und aus der Schlafmedizin, die sofort mitmachen wollten. Zu den etwa 20 Physikern kamen so noch weitere 20 Wissenschaftler, die das Team komplett machten. Das jüngste Teammitglied ist eine 22-jährige Studentin, alle arbeiten ehrenamtlich.
Das erste der beiden Beatmungsgeräte ist eine Erweiterung des sogenannten CPAP (Continuous Positive Airway Pressure)-Geräts. Diese Geräte werden zum Beispiel zur Behandlung der Schlafapnoe eingesetzt und sind in Deutschland in drei Prozent der privaten Haushalte vorhanden. Mit Hilfe eines Motors, eines Controllers und einer entsprechenden Software gelang es, das Gerät aufzurüsten. "Die Mediziner und Techniker sagen uns, was sie brauchen. Und wir versuchen, das dann umzusetzen", erklärt Caroline Sommer den Arbeitsprozess. Die Bauteile lieferte ein 3D-Drucker.
Besser als nichts
Zwar sind die modifizierten CPAP-Geräte nicht so leistungsfähig wie professionelle Beatmungsgeräte. Weder können sie die Herzfrequenz überwachen, noch kann man steuern, wie viel Sauerstoff ins Blut gelangen soll. Sie könnten aber eingesetzt werden, sobald Patienten auf dem Wege der Besserung sind. Damit würden dann wieder klinische Beatmungsgeräte für die Versorgung von schweren COVID-19-Fällen mit starker Atemnot frei.
So sehen es auch Mediziner, die an der Universitätsklinik Gießen und Marburg in der Intensivmedizin mit Beatmungsgeräten arbeiten. Sie haben sich die Entwicklung der modifizierten Geräte angeschaut. "Sie sagen, sie würden das Gerät auf jeden Fall verwenden, wenn sie kein anderes zur Verfügung hätten", erzählt Doktorandin Sommer.
Es geht auch noch einfacher
Auch das zweite von den Marburgern entwickelte Gerät wird von Medizinern positiv beurteilt. Es basiert auf sogenannten "Ambu Bags" - Beatmungsbeutel, die in der Ersten Hilfe zur Erstversorgung eingesetzt werden und in großer Stückzahl preisgünstig verfügbar sind. Sie bestehen aus einer Maske, die auf das Gesicht gedrückt wird, und einem komprimierbaren Beutel, der mit der Hand in regelmäßigen Abständen zur Beatmung zusammengedrückt wird. Die Physiker entwickelten mechanische Apparaturen, welche die Beutel automatisiert zusammendrücken.
Alle technischen Informationen und Bauanleitungen sollen in Kürze öffentlich verfügbar sein. Damit soll die Möglichkeit geschaffen werden, die Geräte weltweit nachzubauen und in größeren Stückzahlen herzustellen. Schon jetzt gibt es auf der Webseite des Instituts für Halbleiterphotonik Informationen zu dem Projekt in Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch und Arabisch.
Arbeiten von früh bis spät
Normale Arbeitszeiten kennt das Marburger Team derzeit nicht. Der Tag beginnt morgens gegen 6 Uhr, und vor 21 Uhr verlässt kaum jemand das Institut. Dafür habe, so erzählt Caroline Sommer, der Professor bislang das ganze Essen, das ein Lieferdienst bringt, "aus eigener Tasche" bezahlt. Um dem Infektionsschutz Genüge zu tun, achten alle Teammitglieder natürlich auf den gebotenen Abstand. Außerdem hat die Mitbewohnerin eines Teamkollegen Schutzmasken für alle genäht, manche sogar mit Blümchen-Dekor.
"Wir sind alle super positiv eingestellt", berichtet Caroline Sommer abschließend am Telefon. "Wir sind beeindruckt davon, dass man das in zwei Wochen hinkriegen kann, das hat niemand von uns erwartet. Und wir freuen uns, wenn jetzt diese Woche wahrscheinlich die Produktion startet und die Geräte dann alle einsatzbereit sind." Ein erster Hersteller ist durch Kontakte von Professor Koch bereits gefunden: Der Automobilzulieferer Fritz Winter aus Stadtallendorf will nach den Vorgaben der Marburger Physiker 50 Geräte bauen.