Ein Buch schreibt Geschichte
8. Oktober 2009Zunächst steht da dieses Bett, weiß, mit Gitterstäben. Ein Klinikbett aus den fünfziger Jahren. Auf dem Kopfkissen liegt eine Kindertrommel aus Blech, rot und weiß bemalt, der Fußboden ist übersät mit Papier. So oder ähnlich könnte er ausgesehen haben, der Raum in der Heil- und Pflegeanstalt, in dem Oskar Mazerath, Protagonist der "Blechtrommel", einen Roman schreiben wollte. Dass man ihn als Erzähler nicht ganz ernst nehmen kann, hat sein Autor Günter Grass dann gleich mit dem ersten Satz deutlich gemacht. Denn dieser erste Satz der "Blechtrommel" lautet: "Zugegeben, ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt".
Schelmenroman
Die Ausstellung zum 50. Geburtstag der Blechtrommel, die sich nun über beide Etagen des Lübecker Günter-Grass-Hauses erstreckt, führt den Besucher mit leichter Hand in Oskar Mazeraths Lügengeschichtenwelt. Und natürlich macht sie die Rezeption des Romans ebenso zum Thema wie seine Entstehungsgeschichte.
Günter Grass , sagt Jörg Philipp Thomsa, der Leiter der Lübecker Einrichtung, befinde sich in einer Erzähltradition, die weit zurückreicht. "Er nennt ja selber die pikaresken Romane als Vorbilder. Oskar Mazerath ist quasi der jüngste Erbe dieser barocken Erzähltradition, des Pikaros, des Schelms, der die Welt aus einer Außenseiterperspektive beobachtet und gleichzeitig auch entlarvt".
Orte der Blechtrommel
Geschrieben hat Günter Grass "Die Blechtrommel" seinerzeit weitgehend in Paris, in einer erbärmlich feuchten Wohnung in der Avenue d’Italie, über die die schönsten Anekdoten kursieren. Paul Celan, Grass‘ Freund und vertrauter jener Jahre, ist dort ein und aus gegangen. Klaus Wagenbach, der Berliner Verleger, erinnert sich an Ratten vor der Wohnungstür, die er bei einem Besuch hat vertreiben müssen, und im Keller des Hauses hat ein Germanist Jahre später einen nun in Lübeck zu bestaunenden Koffer gefunden, in dem sich frühe Versionen des Manuskripts der "Blechtrommel" befanden. Die wiederum spielt ja bekanntlich nicht in Paris, sondern überwiegend im Danzig der Zwischenkriegsjahre.
Danzig, sagt Jörg-Philipp Thomsa, sei der Fels, auf dem das Werk von Grass gebaut ist. "Das ist der Nukleus. Nicht nur Danzig, sondern Danzig-Langfuhr, der Stadtteil, in dem Grass ja auch aufgewachsen ist".
Und der, wie Günter Grass einmal gesagt hat, genauso groß oder klein war, dass sich alles, was sich auf dieser Welt ereignet oder ereignen könnte, auch in Langfuhr ereignete oder hätte ereignen können. Die Ausstellung skizziert mit Fotos, alten Zeitungen und historischen Stadtplänen das Vorkriegs-Danzig von Oskar Mazerath und Günter Grass und folgt den beiden dann nach Düsseldorf, wohin der der Autor wie auch sein Protagonist nach Kriegsende geflüchtet sind. "Der dritte Teil der 'Blechtrommel'", sagt Jörg-Philipp Thomsa, "spielt ja in Düsseldorf und hier sind, ähnlich auch wie bei Danzig, sehr, sehr viele autobiografische Erlebnisse von Grass literarisch verarbeitet worden, beispielsweise seine Studienerfahrungen an der Kunstakademie in Düsseldorf".
Weltweiter Erfolg
Günter Grass hatte in jenen Jahren oft finanzielle Probleme. Das änderte sich erst sich 1958. Eine Lesung aus dem ersten Kapitel der Blechtrommel während des Treffens der Gruppe 47, einer einflussreichen Plattform zur Erneuerung der deutschen Literatur, bescherte ihm nicht nur den Preis der Gruppe, sondern auch umgehende Interessensbekundungen von Verlagen für das noch unfertige Manuskript. Spätestens als das Buch dann erschien, musste der Autor allerdings zur Kenntnis nehmen, dass sein Werk insbesondere wegen der rüden Beschreibung auch brutaler Varianten der Sexualität die kritische Leserschaft ausgesprochen stark polarisierte. Im Jahre 1959, erinnert Jörg-Philipp Thomsa, wurde Grass beispielsweise der Bremer Literaturpreis verwehrt. "Eine unabhängige Jury hatte ihm diesen Preis zuerkennen wollen. Der Bremer Senat, SPD-geführt damals, hat das verweigert. Und zwar aufgrund dieser angeblich blasphemischen und pornografischen Stellen in der Blechtrommel".
"Wenn es noch Kritiker in Deutschland gibt, wird "'Die Blechtrommel', der erste Roman eines Mannes namens Günter Grass, Schreie der Freude und der Empörung hervorrufen", hatte der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger bereits 1959 prophezeit. Er sollte Recht behalten. Denn bis heute wird das Buch kontrovers diskutiert. Und bis heute wirkt es inspirierend. Der britisch-indische Schriftsteller Salman Rushdie bezieht sich ausdrücklich auf Grass, John Irvings "Owen Meany", Protagonist des gleichnamigen Erfolgsromans, trägt deutliche Züge von Oskar Mazerath, und der Regisseur Volker Schlöndorff hat mit seiner Film-Adaption der "Blechtrommel" ein bemerkenswertes eigenständiges Kunstwerk geschaffen. 1980 wurde es in der Kategorie 'bester ausländischer Film' mit einem Oscar ausgezeichnet.
Autorin: Silke Bartlick
Redaktion: Gabriela Schaaf