1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikMyanmar

Ehemaliger UN-Koordinator: Keine schnelle Lösung für Myanmar

4. April 2024

Die internationale Gemeinschaft müsse über den Tellerrand schauen und auch lokale Strukturen mit einbeziehen, sagt der frühere UN-Koordinator für humanitäre Hilfe in Myanmar, Charles Petrie, im DW-Interview.

https://p.dw.com/p/4eDcP
Mitglieder der Mandalay People’s Defense Forces (PDF)
Rebellen setzten die Militärregierung Myanmars unter Druck. Im Bild: Mitglieder der Mandalay People’s Defense Forces (PDF)Bild: AFP

Vor drei Jahren stürzte das Militär in Myanmar die demokratisch gewählte Regierung und trieb das Land in einen Bürgerkrieg. Nun aber scheint die Macht der Junta angesichts des wachsenden bewaffneten Widerstands brüchiger denn je. Die bewaffneten oppositionellen "Volksverteidigungskräfte" (PDF) haben Zehntausende von jungen Rekruten angeworben, die im gesamten Land gegen die Armee kämpfen sollen. Zugleich ist es einer Allianz aus Kämpfern ethnischer Minderheiten gelungen, Gebiete im nördlichen Shan-Staat an der Grenze zu China zu erobern. Auch im Kayin-Staat im Südosten und im Chin-Staat im Westen haben Milizen Erfolge erzielt. 

Charles Petrie, ehemals UN-Koordinator für humanitäre Hilfe in Myanmar, war über zehn Jahre mit der politischen Entwicklung des Landes befasst. Vor kurzem reiste er in den vom Krieg zerrissenen Karenni-Staat, um sich ein Bild über die Situation vor Ort und deren Auswirkungen auf die humanitäre Lage zu verschaffen. Die DW hat ihn nach seiner Reise interviewt. 

DW: Was sind die wichtigsten Erkenntnisse Ihrer Reise?   

Charles Petrie: Zum einen wollte ich mir ein Bild davon machen, ob die internationale humanitäre Hilfe die Bevölkerung erreicht. Vor allem aber wollte ich einen Eindruck von den lokalen Regierungsstrukturen gewinnen, die sich gerade herausbildeten. Ich hatte davon gehört, dass sich lokale Räte bildeten und wollte ein besseres Gefühl dafür bekommen, wie diese Strukturen aussehen. Was ich vorfand, war eigentlich viel positiver, als ich es mir hätte vorstellen können." 

Inwiefern? 

"Einer der Gründe, warum es den Militär-Putschisten nicht gelungen ist, das gesamte Land unter Kontrolle zu halten, ist der Widerstand der Bevölkerung, genauer gesagt, der jungen Generation. Die jungen Menschen sind sehr gut vernetzt, sehr versiert in den sozialen Medien und sehr stark mit der Außenwelt verbunden.

Die junge Generation bildet das Rückgrat der Revolution. Sie hat nicht mehr so viel Angst vor dem Militär wie ihre Eltern. Sie unterliegen nicht mehr diesem Maß an Selbstzensur, auf dessen Grundlage das Militär früher das Land kontrollieren konnte. 

Diese jungen Aktivisten sagten mir: 'Das ist nicht nur ein Bürgerkrieg, das ist eine Revolution.' Mir scheint, dieser Widerstand gegen das Militär ist etwas wirklich Neues. In Myanmar gibt es einen Paradigmenwechsel, der sich in Richtung alternativer Formen des Regierens und der Verwaltung bewegt. Das Jahr 2021 hat meiner Meinung nach diesen Paradigmenwechsel in Myanmar ausgelöst mit einem neuen Blick auf die Zukunft des Landes.

Ein Punkt dabei ist aber, dass es keinen Raum für schnelle Lösungen gibt. Die Bevölkerung lehnt eine solche Vorstellung ab. Dennoch suchen viele Vertreter der internationalen Gemeinschaft weiterhin nach einer solchen mit der Logik: Lasst uns die Kämpfe eindämmen, um das Leiden zu lindern. Der Widerstand will aber keine schnelle Lösung. Er will ein uraltes historisches Problem angemessen lösen, unter dem das Land bis heute leidet."

Einige internationale Beobachter befürchten, das Land könnte aufgrund der Kämpfe auseinanderfallen. Wäre die Auflösung der Union von Myanmar in Ihren Augen eine Bedrohung oder eine Chance?

"Das Land bricht gerade auseinander. Dieser Zerfall ist das Ergebnis davon, dass das Militär die Kontrolle  über weite Landesteile verloren hat. Derzeit beobachten wir, dass ein Raum für neue Regierungsformen entsteht. Aber - und das ist wichtig -  keine der Widerstands- oder ethnischen Gruppen streben eine Unabhängigkeit an. Stattdessen zeigt sich der Wunsch nach einer neuen Form des Föderalismus, der die Rechte verschiedener ethnischer Gruppen und ihre Fähigkeit zur Zusammenarbeit garantiert.

Die internationale Gemeinschaft sagt, sie wolle nicht für die Zersplitterung des Landes verantwortlich gemacht werden. Aber das ist nicht länger das Problem, zumindest derzeit nicht. Viel wichtiger ist die Frage, wie man sich einen Staat wie Myanmar ohne ein starkes Zentrum vorstellen kann. Es geht darum, die Realitäten dieses Mosaiks verschiedener Verwaltungsgebiete anzuerkennen und als eine Form des Föderalismus zu verstehen, der alle zusammenführt."

Ex-UN-Koordinator Charles Petrie in Myanmar, Frühjahr 2024
Analysiert die politische Entwicklung Myanmars: der ehemalige UN-Koordinator Charles Petrie Bild: Privat

Ist die Entstehung dieser neuen Staatsformation der Grund dafür, dass die Vereinten Nationen mit ihrem Vorgehen in Myanmar kaum vorankommen?

"Westlichen Regierungen und die Vereinten Nationen haben Schwierigkeiten damit, etwas zu akzeptieren, das in ihren Augen keine Tradition hat. Das Problem scheint mir derzeit die Unfähigkeit und der Unwillen, die Situation so zu sehen, wie sie ist, und die Chancen zu verstehen, die die aktuelle Situation für die Zukunft des Landes bietet. Doch westliche Institutionen und die UN sind sehr langsam und teilweise kaum in der Lage, über den Tellerrand zu schauen. Genau das braucht es aber im Hinblick auf Myanmar."

Wie sollten die internationale Gemeinschaft und die UN diese Situation angehen?

"Das Erste wäre Demut. Es gilt, bescheiden zu sein und zu erkennen, dass man in den Krieg anderer Menschen eintritt. Man darf ihnen nicht die eigene Sichtweise aufdrängen. Dies ist auch wichtig, weil die Menschen vor Ort und ihre Führungskräfte nicht auf internationale Unterstützung angewiesen sind. Sie fühlen sich von den Vereinten Nationen im Stich gelassen. Sie mussten die Dinge in die eigene Hand nehmen, und das taten sie auch. Deshalb gilt es, demütig zu sein.

Zweitens muss man sich darüber im Klaren sein, dass die Lagebeurteilung vor dem Putsch und die daraus resultierenden Ansätze heute nicht mehr anwendbar sind. Wenn Sie in der Hauptstadt Naypyidaw über den Zugang zu vielen der gefährdeten Gruppen im Land verhandeln, erhalten Sie diesen nicht - und zwar schlicht deshalb, weil das Militär die Gebiete, wo sich diese aufhalten, nicht mehr kontrolliert.

Man muss also die Verwaltung und die Regierungsstrukturen in den anderen Teilen des Landes mit einbeziehen. Aber sich zu engagieren heißt nicht, nur von Zeit zu Zeit dorthin zu gehen. Vielmehr erfordert es viel Arbeit und nachhaltiges Engagement. Grundsätzlich geht es darum, die lokalen Strukturen auf die nächste Stufe hin weiterzuentwickeln. Man muss vor Ort nachfragen, wie die Hilfe kanalisiert werden soll. Haben Sie den Mut, auch die nichtstaatlichen Akteure substanziell mit einzubeziehen. Im Grunde geht es um die Bereitschaft, anders als bisher zu agieren."

Militärparade in der Hauptstadt Naypyidaw, 2022
Machtdemonstration: Militärparade in der Hauptstadt Naypyidaw, 2022Bild: AFP/Getty Images

Wie hat die internationale Gemeinschaft auf diesen neuen Ansatz reagiert?

„Ich denke, eines der großen Probleme für das UN-Landesteam in Myanmar besteht heute darin, dass es keine Führung hat. Seit dem Putsch gibt es in dem Land keinen UN-Koordinator mehr. Die Leiter der UN-Organisationen sind mehr mit ihren eigenen Verantwortlichkeiten und Mandaten beschäftigt als mit dem Wohl der Gesamtstruktur.

Das UN-Team hat derzeit kein Führungspersonal vor Ort und es hat auch keine politischen Anweisungen aus New York erhalten. Die UN müssen dringend das Führungsproblem angehen und danach alle Stakeholder in ihr Engagement mit einbeziehen. Die UN können es sich nicht leisten, sich diese Gelegenheit, ihre Relevanz wiederherzustellen, entgehen zu lassen."

Charles Petrie fungierte von 2003 - 2007 als lokaler UN-Koordinator in Myanmar. Von 2012 - 2015 koordinierte er die Bemühungen unter der Führung Norwegens, ein Ende der internen Konflikte Myanmars auszuhandeln.

Das Interview führte Rodion Ebbighausen.

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Zum Wehrdienst gezwungen: Massenflucht aus Myanmar

Rodion Ebbinghausen DW Mitarbeiterfoto
Rodion Ebbighausen Redakteur der Programs for Asia