Evangelisches Orietierungspapier zu Ehe und Familie sorgt für Streit
6. November 2013Es war als Orientierungshilfe gedacht. Doch dann entwickelte das "Positionspapier zu Ehe und Familie", das der EKD-Vorsitzende Nikolaus Schneider im Juni vorstellte, ungeahnte Sprengkraft. Seither brodelt ein Konflikt mit unklaren Fronten: Wertebewahrer contra Werteveränderer? Konservative versus Liberale? Medien im ganzen Land berichten und kommentieren. In Gottesdiensten, Pfarrhäusern und selbst an den Küchentischen wird diskutiert. Sogar von etlichen katholischen Bischöfen kamen kritische Stellungnahmen. Kein Zweifel: Das Positionspapier der Kirchenleitung hat den größten kirchenpolitischen Streit der letzten Jahre entfacht. Viereinhalb Monate später sind die 23 Millionen evangelischen Gläubigen noch immer gespalten.
Worum geht es? Das 160-seitige Papier trägt den sperrigen Titel "Zwischen Autonomie und Angewiesenheit - Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken". Seit 2009 hatte ein Expertengremium das Grundsatzpapier für den Dachverband der 20 evangelischen Landeskirchen erarbeitet. Tenor: Die EKD erkennt alle Formen des familiären Familienlebens an, inklusive homosexueller Lebenspartnerschaften und sogenannter Patchwork-Familien. Die Ehe könne nicht als einzige Form gelten. Vor allem liberale Kirchenvertreter spendeten Beifall. Ihr Argument: Die Kirche nehme eine längst überfällige Anpassung an die moderne Gesellschaft vor.
Historisches Idealbild Ehe
Rückblende: Das Bild und der Stellenwert von Ehe und Familie in Deutschland haben sich mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft im späten 18. und im 19. Jahrhundert verfestigt: Vater, Mutter, Kinder - wird spätestens seitdem als klassische Familie verstanden. Während des Nationalsozialismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts galt diese Konstellation als Idealbild, an dem es nichts zu korrigieren gab. Homosexualität war gesetzlich verboten.
Die Kirchen förderten dieses klassische Familien-Bild über Jahrhunderte als Idealmodell. Immerhin hatte bereits die so genannte "Heilige Familie", in die Religionsgründer Jesus hineingeboren wurde, dieselbe Besetzung. Noch heute sehen Katholiken und Orthodoxe in der Ehe zwischen Mann und Frau ein Sakrament, ein heiliges, unverletzliches Zeichen Gottes.
Zeit der Veränderung
Nach dem Zweiten Weltkrieg wendete sich das Blatt. Zwar galt die Mischung mit dem Vater als Familienernährer, der Frau als Hausfrau und Mutter und den Kindern zunächst weiter als stabile Konstellation. Doch änderte sich das Mitte der 1970er Jahre, wie die bayerische Theologin Stefanie Schardien feststellt: "Es ging hin zu einer größeren Pluralität." Stellt sich die Frage, ob es diesbezüglich einen Zusammenhang gibt mit den seit etwa 1970 deutlich steigenden Kirchenaustrittszahlen, also mit nachlassender kirchlichen Bindung.
Heute gibt es - neben der klassischen Ehe zunehmend andere Formen des Zusammenlebens: Ehen ohne Trauschein, Patchwork-Familien, Alleinerziehende, homosexuelle Partnerschaften. "Auch sie gelten mittlerweile als gesellschaftsfähig und genießen staatliche Anerkennung." Als Beispiel nennt Schardien das Lebenspartnerschaftsgesetz von 2001. Es ermöglicht gleichgeschlechtlichen Beziehungen einen rechtlichen Rahmen zu geben.All dem, so Schardien im Gespräch mit der Deutschen Welle, wollte die Orientierungshilfe der Kirchenleitung gerecht werden. "Die unterschiedlichen Realitäten von Familien werden darin sichtbar", schrieben denn auch 30 Unterstützer im September in einem Offenen Brief an den heftig kritisierten EKD-Ratsvorsitzenden Schneider.
Massiver Protest
Kritiker beklagen hingegen eine "Desorientierung". Theologisch konservative Kreise in der evangelischen Kirche monierten, in der Schrift fehle das Bekenntnis zum christlichen Leitbild von Ehe und Familie. Michael Diener, Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz, verwarf das Papier als Absage an jedes „normative Verständnis der Ehe als göttliche Stiftung“. Eine bundesweite Initiative forderte den Rat der EKD auf, die Orientierungshilfe zurück zu nehmen. Begründung: Die Autoren des EKD-Familienpapiers wollten den Familienbegriff auflösen „und bis ins Beliebige hinein“ aufweichen. Doch EKD-Chef Schneider ließ sich davon nicht beeinflussen.
Kein Lager-Streit
Position bezog auch sein Vorgänger, der frühere Berliner Bischof Wolfgang Huber. Die Ehe sei "eine gute Gabe Gottes", auf der Gottes Segen liege und die deshalb einen "ethischen Vorrang" genieße. Jesus habe die Unauflöslichkeit der Ehe ausdrücklich bekräftigt. All dies würde in der Orientierungshilfe nicht konstatiert. Der Theologe und Psychotherapeut Rolf Trauernicht merkte gegenüber der Deutschen Welle an: "Ich hätte viel lieber ein Papier gehabt, das deutlich macht, wie Ehe gelingen kann.“ Da gebe es dringenden Unterstützungsbedarf.
Ehe doch kein Auslaufmodell?
Ende September lud die EKD zu einem wissenschaftlichen Symposium über theologische Grundsatzfragen zu diesem Thema. Vier namhafte Theologen attestierten dem Papier zu wenig auf biblische Bezüge einzugehen. Der EKD-Ratsvorsitzende Schneider betonte, man habe bei dem Positionspapier vorausgesetzt, dass die Kernfamilie auch weiterhin das verbindliche Leitbild der EKD bleibe. Durch das Papier habe der Rat der EKD die Lebensleistung von Alleinerziehenden und Patchwork-Familien wertschätzen wollen. Die Debatte wird andauern - auch über die derzeit in Düsseldorf tagende Synode der EKD hinaus. Ausgang offen.