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Gesellschaft

Dänemark: Der Kampf gegen die Ghetto-Liste

Anne Sofie Hoffmann Schroder sam
2. Januar 2020

Dänemarks Regierung will Parallelgesellschaften auflösen und weist dafür jedes Jahr Siedlungen als "Ghettos" aus. Eine Gruppe junger Frauen aus einem betroffenen Wohnviertel wehrt sich gegen die Stigmatisierung.

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Amina Safi Tingbjerg Kopenhagen
Amina Safi führt mit drei Freundinnen eine Kampagne gegen die so genannte Ghettoliste anBild: DW/ A. Schröder

Sie haben genug. "Streichen Sie die Liste", schreiben die vier engagierten Frauen. "Bitte sagen Sie uns nicht noch mal, dass wir ein Problem sind." In einem offenen Brief an den Wohnungsminister Kaare Dybvad wehren sich die jungen Frauen aus Tingbjerg, einer Siedlung nahe Kopenhagen, gegen die jährlich im Dezember veröffentlichte "Ghetto-Liste" der dänischen Regierung. Darin listet das Wohnungsbauministerium benachteiligte Stadtteile und Wohnviertel auf, die es als soziale Brennpunkte einstuft. 28 Gegenden des Landes sind dort für das Jahr 2019 vermerkt, 15 gelten als besonders problematisch - auch Tingbjerg.

Ihre Forderung an den Minister begleiten sie mit einer Petition, die sie im Namen der jungen Bürgerinnen und Bürger von Tingbjerg ins Leben gerufen haben. Unterstützt werden sie durch ActionAid Dänemark, einer international agierenden Nichtregierungsorganisation, deren Hauptziel es ist, weltweit gegen Armut und Ungerechtigkeit vorzugehen. 

"Die Ghetto-Liste stigmatisiert uns", erzählt die 19 Jährige Amina Safi im neuen Kulturhaus in Tingbjerg. Sie ist eine der Initiatorinnen des offenen Briefs. "Wir fühlen uns wie Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse. Tingbjerg ist eine großartige Gegend, aber wir müssen uns aufgrund unserer  Adresse ständig rechtfertigen."

Straßenansicht von Tingbjerg mit einer Bibliothek und Kulturstätte von Cobe Architects, Kopenhagen
Das Kulturhaus Tingbjerg (rechts) eröffnete in der Planstadt der 1950er Jahre eine neue Ära der BegegnungBild: DW/ A. Schröder

Tingbjerg wirkt eher idyllisch, nicht so, wie man sich ein Ghetto vorstellen würde. Durch das modernisierte Wohnprojekt mit gelben Klinkerfassaden in der Grafschaft Kopenhagen, etwa sechs Kilometer nordwestlich vom Kopenhagener Stadtzentrum, ziehen sich Alleen und gepflegte Grünflächen; es gibt eine Vielzahl von Supermärkten und Cafés. Viele Kinder lernen in der örtlichen Bibliothek und spielen auf dem angrenzenden Schulgelände.

Dennoch wird Tingbjerg als "Hardcore-Ghetto" eingestuft. Es steht seit fünf Jahren ununterbrochen auf der Ghetto-Liste der Regierung und erfüllt vier der fünf aufgestellten Kriterien: Von den 6500 Einwohnern haben über 50 Prozent einen Migrationshintergrund. Mehr als 60 Prozent der Bevölkerung hat in Dänemark nur eine Grundschulausbildung erhalten. Das durchschnittliche Einkommen in Tingbjerg liegt unter 55 Prozent des Durchschnittseinkommens der ganzen Region. Der Anteil der Einwohner, die wegen Straftaten oder Vergehen gegen das Waffen- oder Betäubungsmittelgesetz verurteilt wurden, war in den letzten zwei Jahren mindestens dreimal so hoch wie der nationale Durchschnitt.

"Diese Kriterien sind diskriminierend", sagt Safi, deren Eltern aus Afghanistan nach Dänemark kamen. "Ich wurde in Dänemark geboren und bin hier aufgewachsen; ich denke und träume in Dänisch. Ich bin in meinem Studium sehr ehrgeizig und fühle mich sehr verpflichtet, einen Beitrag zur dänischen Gesellschaft zu leisten", sagt sie. "Aber durch die Ghetto-Liste fühlen wir uns entfremdet und unerwünscht."

Ein Hindernis für erfolgreiche Integration

Die Liste wurde erstmals 2010 unter der Mitte-Rechts-Regierung des damaligen Premierministers Lars Løkke Rasmussen eingeführt und vom Ministerium für Verkehr, Bau und Wohnungswesen erstellt. Die Liste und der Gebrauch des Wortes "Ghetto" seien hinderlich für die Integration und schafft ein Gefühl von Ausgrenzung, sagt Aydin Soei, Soziologe und Autor. 

"Mir bereitet es Sorge, dass junge Menschen anfangen zu glauben, dass sie zum Scheitern verurteilt sind, weil sie in einem sogenannten Ghetto leben", erläutert Soei. "Durch die Nennung auf der Liste sind die Einwohner von Tingbjerg von dem stark diskriminierenden 'Ghettoplan-Gesetz' betroffen."

Das Gesetz wurde von Løkke Rasmussen im Jahr 2018 eingeführt, nachdem er in seiner Neujahrsansprache an die Nation versprochen hatte, "die Ghettos vollständig abzuschaffen". Ziel dieser Strategie war es, sogenannte Parallelgesellschaften aufzulösen. In Brennpunktgegenden müssen Kleinkinder schon ab ihrem ersten Geburtstag mindestens 25 Stunden pro Woche in der Kita verbringen, wo sie nicht nur Dänisch lernen, sondern auch in "dänischen Werten" und Traditionen unterrichtet werden. Wer seine Kinder zu Hause lässt, riskiert, dass Sozialleistungen gekürzt werden. Außerdem können in diesen Vierteln Straftaten wie Vandalismus und Diebstahl härter geahndet werden als im Rest des Landes. 

Für Gegenden, die fünf Jahre lang ununterbrochen auf der Liste stehen, ist sogar gar der Abriss von Wohnblocks und die Umsiedlung der Bewohner vorgesehen, um private Investoren anzulocken und die lokale Demografie zu verändern - ein Schicksal, das jetzt auch Tingbjerg droht.

Das Paradoxe ist, dass es an den betroffenen Orten eine positive Entwicklung gegeben hat, erklärt Soziologe Soei. "Das Kriminalitätsniveau ist niedriger als je zuvor, und immer mehr junge Menschen erhalten eine Ausbildung. Doch noch immer stellen die Politiker die Ghettos als ein wachsendes Problem dar."

Kinder und Aufpasser auf dem Spielplatz vor der Tingbjerg Schule
Die Bauten des Kulturzentrums sind der neue Treffpunkt in der StadtBild: DW/ A. Schröder

Die positiven Entwicklungen sind jedoch in erster Linie auf lokale und langfristige Anstrengungen zurückzuführen, die vom öffentlichen Wohnungsbau und den lokalen Behörden finanziert werden - nicht auf den Staat oder die Ghetto-Liste, sagt Soei.

Einladung nach Tingbjerg

Im Juli, kurz nach seiner Amtseinführung als Wohnungsbauminister der neuen sozialdemokratischen Regierung, sagte Kaare Dybvad, er wolle der politischen Verwendung des Wortes "Ghetto" ein Ende setzen, um eine Stigmatisierung der Gebiete zu vermeiden. Da die Bedeutung des Wortes in anderen Kulturen keinen Vergleich mit der Situation in Dänemark zuließen, wolle er die betroffenen Stadtteile stattdessen als "unterprivilegierte Wohngebiete" bezeichnen. Jedoch ist das Wort "Ghetto" durch das Ghettoplan-Gesetz in der dänischen Rechtsprechung verankert und wird offiziell weiterhin verwendet. 

Dass ihre Heimat Tingbjerg zu den härtesten Gegenden Dänemarks zählt, enttäuscht Amina Safi und ihre Freundinnen sehr. Wenige Tage nach der Vorstellung der aktuellen Liste erhielten sie von Minister Dybvad eine persönliche Antwort auf ihren Brief: "Es tut mir leid, dass Sie sich stigmatisiert fühlen", schreibt er. "Die Ghetto-Liste ist ein Instrument, um den Unterschied zwischen den gefährdeten Wohngebieten und den besser funktionierenden Wohngebieten zu verringern. Um das zu erreichen, müssen wir gemischte Städte und Nachbarschaften im ganzen Land schaffen. Die Maßnahmen zur Bekämpfung von Parallelgesellschaften sind ein entscheidender Faktor, um das negative Erbe zu brechen."

Amina Safi findet auch, dass gemischte Nachbarschaften eine gute Idee seien. "Aber wie will er (der Minister - Red.) es schaffen, Menschen nach Tingbjerg zu locken, wenn es Ghetto genannt wird? Solange die Ghetto-Liste existiert, diskriminiert uns die Regierung", sagt sie und fügt eine offene Einladung an den Minister bei: "Lieber Kaare Dybvad, bitte kommen Sie uns besuchen und überzeugen Sie sich davon, dass Tingbjerg nicht auf eine Ghetto-Liste gehört."

Ihre Petition zur Abschaffung der Ghetto-Liste wurde bislang von mehr als 9000 Menschen unterzeichnet.

Eine Anfrage der Deutschen Welle hat der dänische Minister für Verkehr, Bau und Wohnungswesen, Kaare Dybvad, bisher nicht beantwortet.