"Du bist anders - egal, was du machst"
30. März 2022Nastasia Kordyla-Balke sitzt zwischen Milena und Julian am Tisch. Sie hält acht Finger hoch. Julian soll sie abzählen. Matheunterricht in der Möwen-Klasse. Die Erstklässler sprechen einen Mix aus Englisch und Deutsch. Viele Schüler sind erst vor Kurzem nach Deutschland gekommen.
Wir sind in der Neuen Grundschule Lehe in Bremerhaven:Hoher Migrationsanteil, Armut. Nastasia weiß, wie das ist. Gerade deswegen arbeitet sie gerne hier. Sie will die Kinder unterstützen. Nastasia ist pädagogische Mitarbeiterin. Für sie keine Selbstverständlichkeit: "Dass eine Sintiza Beamtin wird oder im öffentlichen Dienst arbeitet, das gab es nicht. Das war für mich unerreichbar. Da brauchte ich gar nicht darüber nachdenken, so weit war das weg."
Sinti und Roma werden im deutschen Bildungssystem immer noch diskriminiert. Das verhindert häufig den Bildungsaufstieg, wie der Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus von 2021 zeigt. Die Kommission untersuchte zwei Jahre lang die Situation der Sinti- und Roma-Bevölkerung.
Nastasia zeigt uns die Schule. Wir laufen durch Flure, bunt beklebt mit selbstgebastelten Kunstwerken. Sie geht zügig, erklärt viel, redet schnell. Man merkt: Nastasia ist es gewohnt, eine Menge in kurzer Zeit zu erledigen. Die 38-Jährige ist dreifache Mutter, hat einen Vollzeitjob, studiert, engagiert sich ehrenamtlich und pflegt einen Angehörigen.
Am Eingang laufen wir an einem Flipchart vorbei mit der Aufschrift: "Jeder Einzelne ist verschieden. Jeder Einzelne ist schön. Jeder Einzelne ist etwas ganz Besonderes." Jeden Tag gibt es hier einen neuen Spruch, der die Schülerinnen und Schüler motivieren soll. Auf den Spiegeln in den Waschräumen stehen Sätze wie: "Du bist einzigartig", "Du bist wunderschön". Nastasia sagt, die Kinder sollen sich wertgeschätzt fühlen, sie sollen gestärkt werden, um ihren Weg zu gehen.
Ihre eigene Grundschulzeit hat Nastasia anders erlebt. "Es war egal, wie sehr ich mich angestrengt habe. Das hat die Lehrer nicht interessiert. Es gab ein Bild über uns, das konnten wir nicht ändern." In Bremerhaven ist der Nachname "Balke" bekannt. Jeder wusste, dass sie Sintiza ist, denn viele Sinti-Musiker heißen so.
Nastasia hätte mit ihren Noten auf die Realschule gehen können, doch ihre Lehrerin sagte, sie sei besser auf der Hauptschule aufgehoben. "Das war niederschmetternd für mich. Meine Mutter war so stolz, dass ich so gute Noten hatte, und auch ich hatte mich so gefreut." Ihre Mutter, Tanten und Onkel waren zu ihrer Zeit direkt auf "Sonderschulen" geschickt worden. Heute werden diese Schulen meist Förderschulen genannt.
Diese Lehreinrichtungen sind in Deutschland für Schülerinnen und Schüler mit Lern- und Entwicklungsstörungen vorgesehen. Sinti und Roma werden häufig auf solche Schulen geschickt. Nicht nur in Deutschland, sondern laut Antiziganismus-Bericht in ganz Europa. Nur wenige schaffen den Sprung auf eine höhere Schule oder gar einen Studienabschluss.Die RomnoKher-Studie aus dem Jahr 2021 hat 614 Menschen aus der Sinti- und Roma-Community in Deutschland interviewt: Nur 1,7 Prozent haben einen Bachelorabschluss, nur 1,9 Prozent einen Master.
Nastasia hat sich hochgekämpft: Hauptschule, Realschulabschluss auf der Abendschule, Ausbildung als Hauswirtschaftlerin. Danach konnte sie endlich ihr Studium beginnen.
Sie sitzt an ihrem Schreibtisch. Eine kleine Arbeitsecke im Schlafzimmer. Aufgeklappter Laptop, Arbeitsheft, Buch und Block, auf dem sie sich Notizen macht. Sie studiert im vierten Semester Sozialpädagogik: "Mich hat das schon immer fasziniert: Warum ist die Gesellschaft, wie sie ist? Warum tun Menschen, was sie tun? Warum sind Menschen rassistisch oder voreingenommen?"
Es sind Fragen, die immer ein Teil von Nastasias Leben und dem ihrer Familie waren. Rassistische Vorurteile sieht sie bis heute als Grund dafür, dass Sinti und Roma auf Sonder- und Hauptschulen geschickt werden. Lehrende gingen davon aus, dass die Kinder aus dieser Minderheit nicht die Voraussetzungen hätten oder gar kein Interesse an Bildung. Die RomnoKher-Studie zeigt allerdings, dass über 80 Prozent der Befragten Bildung für wichtig halten. Dennoch, so die Studie, werden Sinti und Roma als Belastung wahrgenommen, oft noch bevor Lehrkräfte die Kinder persönlich kennenlernen.
Nastasia hat das auch so erlebt - mit ihrer Tochter Delaya, die in der zweiten Klasse die Schule wechselte. Schon am ersten Schultag sagte die Klassenlehrerin, ihre Tochter müsse die erste Klasse wiederholen. Später wurde Delaya, ohne Nastasias Wissen, auf Dyskalkulie - eine Rechenschwäche - getestet. Ihre gesamte Grundschulzeit hatte sie eine Vier in Mathe, bekam Förderunterricht in Deutsch. Auf ihrem Zeugnis ist vermerkt: "Delaya zeigt großes Interesse am Fach Musik. Sie tanzt und singt mit viel Freude und Einsatz."
Ein typisches Stereotyp über Sinti und Roma, findet Nastasia: "Da sagen jetzt Leute: ‘Du bist aber wieder empfindlich.' Ja, meine Tochter ist musikalisch, aber ich sehe hier Rassismus. Bei anderen Kindern wurde das bestimmt nicht so hervorgehoben." Heute ist Nastasias Tochter in der siebten Klasse auf dem Gymnasium. Sie hat eine Zwei in Deutsch und Mathe.
Das, was Nastasias Familie erlebt, wird struktureller Rassismus genannt. Rassismus als Struktur macht es möglich, dass Ungleichheit legitimiert und "normalisiert" wird. Dabei geht es vor allem um historisch etablierte Machtverhältnisse. Sinti und Roma werden seit Jahrhunderten verfolgt. Nach dem NS-Terror ging die Ausgrenzung weiter. Erst 1982 wurde der NS-Genozid an den Sinti und Roma politisch anerkannt. Rassistische Vorurteile halten sich hartnäckig: Sinti und Roma seien "faul", würden sich nicht anpassen.
Kurz vor Feierabend noch einmal den Laptop aufklappen. Nastasia betreut die Facebook-Seite des Studierendenverbands der Sinti und Roma. Hier engagiert sie sich ehrenamtlich. Der Verband unterstützt die Community bei der akademischen Ausbildung. Nastasia sagt: "Es wird noch lange dauern, bis die Problematiken aufgehoben sind. Aber wir sind empowert, wir haben eine Stimme und beteiligen uns mit erhobenem Haupt."