Dramatisches Lagebild zu Antisemitismus in Deutschland
6. Juni 2024"Seit dem 7. Oktober geben wir uns nicht mehr als jüdisch zu erkennen", sagt Ariel Elbert vom Verein Keshet Deutschland. "Wir verstecken unsere Symbole und sind achtsam, wenn wir einen Raum betreten." In Keshet Deutschland sind queer-jüdische Menschen organisiert, die den Dialog mit der Zivilgesellschaft suchen und lange Zeit auch gefunden haben.
Doch seit dem Überfall der islamistischen Hamas in Israel ist davon nur wenig übrig geblieben: "Personen, mit denen wir zusammengearbeitet haben, geben jetzt antisemitische Hetze von sich." Elbert beschreibt, welche Folgen der massiv gestiegene Hass für die Betroffenen hat. Polizeischutz sei das Mindestmaß an Sicherheit, um überhaupt einen Raum betreten zu können. Und Veranstaltungen sage man ab oder plane sie erst gar nicht. Die Hamas wird auch von Deutschland als Terrororganisation eingestuft.
Ariel Elbert berichtet aus der Perspektive von Betroffenen und gibt dem in Berlin vorgestellten "Zivilgesellschaftlichen Lagebild Antisemitismus" ein Gesicht. Felix Klein hat täglich damit zu tun. Seine Amtsbezeichnung: Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus. Er sagt: "Damit Judenhass der Nährboden entzogen werden kann, muss sich eine weithin sichtbare, laut hörbare Mehrheit von uns allen gegen Judenhass stellen."
Antisemitische Hasskriminalität hat sich fast verdoppelt
Klein nennt Zahlen, die das Ausmaß von Antisemitismus illustrieren. Sie stammen aus der aktuellen Bilanz des Bundeskriminalamtes (BKA) über politisch motivierte Kriminalität. In der Kategorie Hasskriminalität wurden im Jahr 2023 rund 17.000 Delikte registriert. Davon waren über 5100 antisemitisch motiviert, was fast einer Verdopplung gegenüber dem Vorjahr entspricht.
Der Antisemitismus-Beauftragte des Bundes setzt diese Zahlen ins Verhältnis zum Anteil von Jüdinnen und Juden an allen in Deutschland lebenden 84 Millionen Menschen: Demnach entfallen rund 30 Prozent der Hasskriminalität auf die "verschwindend geringe jüdische Gemeinschaft, die gerade mal 0,25 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht".
Erfolgreiche Strafverfolgung
Zufrieden ist Klein mit der Reaktion des Staates auf den zunehmenden Antisemitismus in Deutschland. Die Verfolgung von Straftaten sei im internationalen Vergleich erfolgreich: "Wer auf Demonstrationen gegen Jüdinnen und Juden hetzt oder den antisemitischen Slogan 'From the River to the Sea' skandiert, muss sich auf polizeiliche oder staatsanwaltliche Maßnahmen einstellen."
Die Parole "From the River to the Sea, Palestine will be free" ("Vom Fluss bis zum Meer wird Palästina frei sein") ist oft auf anti-israelischen Demonstrationen zu hören und gehört zum Repertoire pro-palästinensischer Gruppierungen. Gemeint ist damit das Gebiet zwischen dem Jordan-Fluss und dem Mittelmeer. Dazu gehören neben Israel auch das Westjordanland und der Gazastreifen. In Deutschland wurde der Slogan nach dem Hamas-Überfall auf Israel verboten. Begründung: Damit werde das Existenzrecht Israels in Abrede gestellt.
Plädoyer für hartes Durchgreifen
Resolutes Handeln befürwortet auch Tahera Ameer vom Vorstand der Amadeu-Antonio-Stiftung, die sich gegen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus engagiert. "Wer die Gräueltaten der Hamas vom 7. Oktober - die Enthauptungen, die Vergewaltigungen, die Entführungen - wer die verharmlost und verherrlicht, der verherrlicht und feiert die Taten von islamistischen Terroristen." Das immer wieder zu betonen sei wichtig.
Von der Zivilgesellschaft erhofft sich Ameer deutlichere Zeichen der Unterstützung: "Ich rufe alle demokratischen Akteurinnen in Deutschland dazu auf, Antisemitismus konsequent zu benennen und sich solidarisch mit den Betroffenen von Antisemitismus zu zeigen!" Dass Jüdinnen und Juden ihre Identität aus Sorge um ihre Sicherheit versteckten, müsse alle alarmieren.