DOSB entschuldigt sich bei Opfern sexuellen Missbrauchs
14. Oktober 2020Gitta Schwarz kann nicht mehr reiten, obwohl es einst ihre größte Leidenschaft war. Heute reicht bereits der Anblick oder der Geruch eines Stalls, um ihr eine schlaflose Nacht voller Tränen und traumatischer Erinnerungen zu bescheren. 15 Jahre alt war Schwarz, als sie erstmals sexuell missbraucht wurde. Zwei- bis dreimal pro Woche ging sie reiten. Zwei- bis dreimal pro Woche wurde sie von ihrem Trainer, einem Mann Mitte 60, in die Enge getrieben, belästigt, zum Geschlechtsverkehr genötigt.
"Ich konnte niemandem im Verein davon erzählen, weil ich wusste, was für ein Ansehen er dort genoss", sagte Schwarz in Berlin bei einer Anhörung der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Monatelang litt die junge Reiterin im Stillen, bevor sie sich endlich entschloss, mit ihren Eltern darüber zu sprechen. Die Reaktion des Vaters, so Schwarz, habe ihre letzte Kraft gebrochen: Er glaubte seiner Tochter nicht. Gitta besuchte weiterhin den Reitverein, als sei nichts geschehen. Doch der fortdauernde Missbrauch hinterließ psychische und körperliche Wunden. Schließlich ging die Mutter mit ihr zum Arzt. Der Mediziner habe lediglich dazu geraten, das Reiten aufzugeben, berichtete Schwarz.
"Schuld, Scham und Druck"
Wie Schwarz forderten bei der Veranstaltung in Berlin auch andere Opfer sexuellen Missbrauchs im Sport, unabhängige Anlaufstellen außerhalb der Sportvereine und Familien einzurichten. Sonst werde es nicht gelingen, das "System aus Schuld, Scham und Druck" zu durchbrechen. Sexuell missbrauchte junge Athletinnen und Athleten seien in diesem System gefangen und sehen sich gezwungen, ihre schlimmen Erlebnisse zu verschweigen.
Im von der Europäischen Union unterstützten "VOICE-Projekt" wurden die Schicksale junger europäischer Sportlerinnen und Sportler, die sexueller Gewalt ausgesetzt waren, gesammelt. Ein Opfer berichtete, vom Trainer, der es missbrauchte, ständig daran erinnert worden zu sein, wie viel Glück es habe, seinem Kader anzugehören. Viele andere stünden sofort bereit, um seinen Platz einzunehmen. Andere Opfer, so die Soziologin Bettina Rulofs von der Universität Wuppertal, fanden es schwierig, ihre Peiniger zu benennen, weil diese in ihren Vereinen einen guten Ruf als unermüdliche Ehrenamtler oder talentierte Trainer genossen hätten. Die Täter würden zudem dadurch geschützt, dass nur "unscharfe Grenzen" zwischen gewöhnlichem Körperkontakt und sexuellen Übergriffen definiert würden, sagt Rulofs.
Kultur der Offenheit fördern
Petra Tzschoppe, Vizepräsidentin des Deutschen Olympischen Sportbunds (DOSB), forderte, zurückliegende Missbrauchsfälle aufzuarbeiten und dabei eine Kultur der Offenheit zu fördern, damit die Opfer nicht davor zurückschreckten, sich zu Wort zu melden. Sie bitte, so Tzschoppe, "im Namen des organisierten Sports alle Betroffenen - auch diejenigen, von denen wir bisher noch nicht wissen - für das Leid, das ihnen widerfahren ist, um Entschuldigung".
Kritiker hatten zuletzt sowohl dem DOSB als auch dem Deutschen Fußball-Bund (DFB) vorgeworfen, Opfer sexuellen Missbrauchs nicht angemessen finanziell zu entschädigen. Für Marie Dinkel, die als Elfjährige von ihrem Judotrainer missbraucht wurde, haben Investitionen in die Prävention allerdings Priorität vor einer finanziellen Entschädigung der Opfer. Die 24-jährige Judoka, die inzwischen selbst Trainerin ist, beklagte bei der Anhörung, dass Trainer in ihrer Ausbildung nicht ausreichend für das Thema sensibilisiert würden.
Im Mai 2019 hatte die Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs erstmals Opfer aus der Welt des Sports dazu aufgerufen, ihre Geschichten zu erzählen. Rund 100 Athletinnen und Athleten haben sich seitdem gemeldet. "Wir müssen von einer hohen Dunkelziffer im Sport ausgehen", sagte Sabine Andresen, die Vorsitzende der Kommission.
Gitta Schwarz brauchte drei Jahrzehnte, bis sie die Kraft fand, öffentlich über den sexuellen Missbrauch durch ihren Trainer zu sprechen.
Adaption: Stefan Nestler