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LiteraturEuropa

Dmitry Glukhovsky: Blick in Russlands Abgründe

30. Oktober 2022

Mit seinem Erzählband "Geschichten aus der Heimat" legt der russische Schriftsteller das Porträt eines zerrissenen Landes vor - und offenbart die grausame Realität im heutigen Russland.

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Dmitry Glukhovsky sitzt in einem Sessel und blickt ernst zur Seite.
Dmitry Glukhovsky wurde in Russland zum "ausländischen Agenten" erklärt. Mittlerweile lebt er in Berlin.Bild: Hannelore Förster/IMAGO

"Was ist mit Russland passiert?" Mit dieser Frage leitet Dmitry Glukhovsky, Jahrgang 1979 und einer der bedeutendsten Autoren Russlands, das Vorwort zu seinem Erzählband "Geschichten aus der Heimat" ein. Und er bezieht sich damit nicht nur auf den Überfall Putins auf die Ukraine, sondern auch auf die Zeit davor, als die Dämonen des Krieges noch fast unbemerkt im Leib des russischen Machtapparats und der russischen Gesellschaft schlummerten.

Russlands Gewaltapparat: Alle Macht den Mächtigen

Entstanden sind die 20 "Geschichten aus der Heimat" in den letzten 13 Jahren - einer Zeitspanne, in der Russland die Entwicklung von einer "eingeschränkten Demokratie" hin zu einem Land der totalitären Aggression durchlief. Auf Russisch erschien das Buch in der jüngsten Fassung 2020, noch bevor die Welt aus den Fugen geriet, nun liegt die deutsche Übersetzung vor. Und da Glukhovsky sich als Autor des Bestsellers "Metro 2033" als erschreckend guter Prognostiker erwiesen hat (in seiner Romanfolge "Metro" hausen Menschen nach einer Atomkatastrophe in unterirdischen Bahnhofsstationen, was an die aktuellen Bilder aus Kiew und Charkiw erinnert), schaut man umso genauer in seine aktuellen Texte hinein. 

Buchcover von Dmitry Glukhovskys "Geschichten aus der Heimat".
Ein zerrissenes Land: Dmitry Glukhovsky legt einen Novellenband vor

Die meisten der Texte sind eine Mischung aus scharfer sozialer Satire und Fantasy, die die Absurditäten und Brüche der russischen Gesellschaft der letzten beiden Jahrzehnte widerspiegeln. Da ist eine einsame Frau, die vom Sex mit Putin träumt - und allein von dem Gedanken schwanger wird; ein tadschikischer Gastarbeiter, der in der brutalen Metropole Moskau, weit entfernt von seiner sonnigen Heimat, in die Fänge der Organhandel-Mafia gerät; ein Antikorruptions-Ermittler, der von seinem Verfahren abgezogen wird - und zu drastischen Mitteln der Selbstjustiz greift. Oder ein älterer Erdkunde-Professor, der in Sibirien einen Zugang zur Hölle entdeckt, um dann festzustellen, dass der staatliche Gaskonzern schon länger ein Geschäft mit den dunklen Mächten der Unterwelt betreibt.

Strukturen der Gewalt und Unterdrückung, Tradition schamloser Ausnutzung von Schwachen, Übermacht des korrupten Staates und seiner Verbündeten auf allen Ebenen der Gesellschaft, auch in der Wirtschaft und den Medien, sind aus Glukhovskys kurzweiligen Texten deutlich herauszulesen. Die grausame Realität im heutigen Russland - der brutale Krieg gegen die Menschen der Ukraine und auch die Vernichtung der eigenen Bevölkerung durch Putins erklärte Teilmobilisierung - passen erschreckenderweise nur zu gut in dieses Puzzle.

Aus der Heimat vertrieben

Dramatisch ist auch Dmitry Glukhovskys persönliche Geschichte: Nachdem der Schriftsteller den Angriff auf die Ukraine aufs Schärfste verurteilt hatte, wurde er in seiner Heimat zum "ausländischen Agenten" erklärt und zur Fahndung ausgeschrieben. Unter anderem werden ihm "diskreditierende Äußerungen über die russische Armee" vorgeworfen. "Sollte ich versuchen, wieder nach Russland zu kommen, lande ich umgehend in einem Straflager", so der 43-Jährige im DW-Gespräch. Der Schriftsteller konnte Russland verlassen und lebt nun in Berlin. Eine Rückkehr in die Heimat bleibt ihm also noch länger, womöglich für immer, verwehrt.

Eine Frau schläft, eingemummelt in einen Schlafsack, auf dem Boden in einer U-Bahn-Station in Kiew. Im Hintergrund sitzt ein Kind in einem Campingstuhl.
Glukhovskys dystopische Vision von Menschen, die in der U-Bahn leben, ist in der Ukraine Realität gewordenBild: Viacheslav Ratynskyi/REUTERS

Solange Wladimir Putin an der Macht ist, wird sich in Russland nichts ändern, meint Glukhovsky. Denn das Land steckt tief in der Schuld, im gemeinschaftlichen Verbrechen. "Der Ukraine-Krieg und seine Reflexion in Russland ist kein Konflikt zwischen Wahrheit und Lügen", so der Schriftsteller. "Es ist jedem klar, wo Wahrheit liegt: Wir Russen, die wir den Frieden immer so schätzten und so viel über unsere brüderlichen Beziehungen mit Ukrainern gesprochen haben, zerbomben ukrainische Städte und richten ukrainische Zivilisten hin. Wir sind alle auf der Seite des Bösen, ganz klar."

Dennoch ruft Glukhovsky, zuletzt bei einem Gespräch am Rande der Frankfurter Buchmesse, zum differenzierten Blick auf die russische Gesellschaft auf. "Da war schon ein Widerstand gegen den Krieg, über 16.000 Menschen wurden von der Polizei festgenommen wegen ihrer Beteiligung an den Protesten. Das ist die größte Anzahl von Verhaftungen in der neuesten russischen Geschichte. Tausende von Intellektuellen, Schriftstellern, Künstlern, Wissenschaftlern haben offene Briefe unterschrieben. Das hat aber nichts gebracht."

Wird es je eine Normalität für Russland geben? Bestimmt, meint Glukhovsky. Der Weg dorthin wird allerdings sehr lang und schmerzhaft sein. Der Vergleich mit Deutschland nach der Nazi-Zeit wäre da nur zu offensichtlich.