Gražinytė-Tyla: "Musik hat eine identitätsstiftende Kraft"
5. Mai 2016Die Litauerin Mirga Gražinytė-Tyla, die Australierin Simone Young, die Estin Anu Tali oder die Amerikanerin Marin Alsop - weibliche Pultstars sind derzeit angesagt, wenn auch deutlich in der Minderheit: Auf einer Liste der führenden 150 Dirigenten der Welt beim Onlineportal "Bachtrack" sind gerade fünf weiblich.
Zierlich, klein und gerade mal 30 Jahre alt, dirigiert Mirga Gražinytė-Tyla äußerst nuanciert, entfesselt dennoch fulminante Energien beim Orchester - wie auch kürzlich beim Festival Heidelberger Frühling zu hören war, als sie für den erkrankten Dirigenten Paavo Järvi einsprang. Ab September 2016 wird sie Chefdirigentin des renommierten City of Birmingham Symphony Orchestra in Großbritannien. Außerdem ist sie Assistentin des Dirigenten Gustavo Dudamel beim Los Angeles Philharmonic.
Deutsche Welle: Sie sind kurzfristig bei einem Konzert der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen eingesprungen. Wie wirkt das Orchester auf Sie?
Mirga Gražinytė-Tyla: Vor allem unglaublich musikalisch. Wenn ich davor stehe, sehe ich, wie jedem einzelnen Musiker das Herz förmlich herausspringt! Ich habe erst ein Mal zuvor die Deutsche Kammerphilharmonie live im Konzert gehört, vor zwei Jahren, hier beim Heidelberger Frühling. Nachher dachte ich: Meine Güte, was für ein Musizieren, was für ein Geist! Jeder im Orchester fühlt sich verantwortlich. Jeder liebt das, was er oder sie macht. Das in unmittelbarer Nähe zu erleben, ist ein unglaubliches Geschenk.
Sie kommen aus Litauen. Welchen Stellenwert hat die Musik dort?
Wir haben eine besondere Art von Gesangskultur, und sie hat uns geholfen, unsere Menschenrechte zurück zu erlangen. Im 20. Jahrhundert, und davor noch im zaristischen Russland, litt das Land an verschiedensten Arten der Unterdrückung. Ich finde zwar, dass die nationale Idee nicht die interessanteste für die Menschheit insgesamt ist. Dennoch ist es falsch, wenn eine Nation unterdrückt oder besetzt wird. Um davon frei zu kommen hat für die baltischen Länder - und nicht nur für sie - das Lied den Weg geräumt, und geholfen, die kulturelle Identität zu finden. Wahrscheinlich entstanden vor allem deswegen Ende des 19. Jahrhunderts viele Chöre - und dafür brauchte man Chorleiter. So hat sich das System entwickelt: Im Land gibt es mehr als fünf Schulen, in denen man mit 13 Jahren anfangen kann, Chordirigieren zu lernen. Man scherzt, dass in Litauen jeder Zweite ein Chordirigent ist, auch wenn sie nicht alle Profi-Musiker sind.
War es für Sie immer klar, dass Sie Dirigentin werden würden?
Mein Vater ist ein Chorleiter und meine Mutter eine Pianistin. Vor der Musik wollten sie mich eigentlich ablenken, weil sie dachten: Das ist ein sehr unsicherer Beruf. Trotzdem nahmen sie mich immer mit zu ihren Proben, zu Konzerten und zum Dirigier-Unterricht. Statt Kindergarten, hatte ich das. Irgendwann konnte ich mir keinen anderen Beruf vorstellen als die Musik. Und als Dirigentin ist man gleichzeitig bei der Musik und bei den Menschen. Beides ist für mich sehr wichtig.
Wie kommunizieren Sie mit den Musikern? Durch Worte oder Gesten? Oder sind es die Augen oder die persönliche Ausstrahlung?
Es geht darum, mit jedem Orchester - und sogar mit dem gleichen Orchester, wenn man wieder mal zusammenkommt - Geist und Charakter des Klangkörpers zu spüren. So bekommt man heraus: Wie arbeitete ich damit? Wie nehme ich das, was sie geben, und wie kann ich ihnen etwas dazugeben?
Wenn Sie vor verschiedenen Orchestern stehen: den Bremern, den Birminghamern oder den Musikern aus Los Angeles, nehmen Sie dann eine Art individuelle kollektive Persönlichkeit wahr?
Diese Unterschiede zu beobachten, ist unglaublich spannend. Auch eine Stadt hat eine Art Persönlichkeit. Eine Zeitlang habe ich hauptsächlich in Salzburg und Los Angeles gearbeitet. Ich liebe beide Orte, und gleichzeitig kann man sich schwer zwei unterschiedlichere Städte vorstellen.
In der Musik finden wir die perfekte Vereinigung von Qualitäten, die allgemein als männlich oder weiblich gelten. Nehmen wir Beethoven zum Beispiel: kräftig und zielgerichtet, dann aber auch zart und einfühlsam. Kann eine Dirigentin Aspekte der Musik hervorbringen, die wir bei Ihren männlichen Kollegen nicht gewohnt sind?
Sehr interessant: Meistens, wenn ich diese Frage höre, fängt sie mit einer Entschuldigung an! Wahrscheinlich ist das ein gutes Zeichen. Wenn man einer Dirigentin diese Frage vor 50 Jahren gestellt hatte, klang sie vermutlich anders - falls man überhaupt gefragt hat. Das heißt, wir bewegen uns in die richtige Richtung, eben zu dieser Vollkommenheit, die Sie ansprechen.
Es geht nur darum, sich authentisch zu fühlen und so zu sein, wie man ist. Ich fühle mich unglaublich frei und habe insgesamt kaum Situationen der Diskriminierung erlebt. Das ist ein großes Geschenk, weil bestimmt einige Kolleginnen vorgekämpft haben.
Mich hat aber ein Satz neulich unglaublich berührt. Vor einigen Monaten gaben wir ein Familienkonzert in Los Angeles. Danach sind einige lateinamerikanische Mütter zu mir gekommen. Sie sagten: "Vielen Dank, dass wir das Konzert mit Ihrem Dirigat erlebt haben. Es ist so gut für unsere Töchter." Dann sagte jemand: "Auch für die Söhne!"
Das Interview führte Rick Fulker