Die vergessenen Kinder von Kiew
18. November 2003Bonn, 18.11.2003, DW-radio, Ute Schaeffer
Die Straßenkinder sind ein neues Phänomen in der Ukraine - eine Entwicklung, die erst mit der Unabhängigkeit eingesetzt hat. Inzwischen gelten in der Ukraine rund 24 000 Jungen und Mädchen als obdachlos. Das ist die Zahl, welche die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte nennt. Die ukrainische Regierung scheint sich dafür weniger zu interessieren. Es gibt keine genauen Angaben wie hoch die Zahl der obdachlosen Jugendlichen ist. Die Straßenkinder gehören zu den ersten Opfern der Transformation in der Ukraine
Am sogenannten "Linken Ufer" gibt es keine Promenade. Das "Linke Ufer" in der ukrainischen Hauptstadt Kiew ist eine Betonwüste. Plattenbauten wachsen in den Himmel. Ödes Beton-Grau bestimmt das Bild. Es ist windig an diesem Tag. Unsere Gesprächspartner sind schwer zu finden. Sie sind unsichtbar - darin haben sie Übung. Denn sie wollen nicht gesehen werden von der Polizei oder den Kontrolleuren der Metro.
Das Unsichtbarsein gehört mit zum Überlebenskampf, den die Straßenkinder in Kiew führen. Es gibt viele von ihnen in der ukrainischen Hauptstadt. Rund 4500 sollen es sein. Sie leben in den Kellern und Hausfluren der großen Mietshäuser, in leerstehenden Wohnungen oder abbruchreifen Ruinen, in den Dachstühlen oder einfach in der Kanalisation. Zwischen den Kiosken am Linken Ufer von Kiew hocken sie beisammen. Die meisten von ihnen sind drogenabhängig und jedes der Kinder am linken Ufer trägt unter dem abgerissenen Pullover einen mit Lösungsmitteln getränkten Lappen. Ruslan trägt nur ein T-Shirt. Ihm ist kalt. Eigentlich ist er zehn Jahre alt, sieht aber aus wie sechs. An das Leben auf der Straße hat er sich gewöhnt. Ruslan: "Ich weiß nicht genau wie lange ich hier schon bin, so zwei Jahre vielleicht. Ich schlafe auf der ‚Nitschka‘, am Postamt am linken Ufer, in der Kanalisation. Na und, da ist es wenigstens warm. Es sind 20 oder 30 von uns am linken Ufer."
Nitschka - übersetzt heißt das "Versteck" - das sind unterirdische Höhlen oberhalb der Heiztrasse von Kiew. Dort leben die Jugendlichen in Gruppen. Die dicken Rohre, durch welche das heiße Wasser läuft, geben Wärme ab. Die Gründe für ukrainische Kinder und Jugendliche, auf die Straße zu gehen unterscheiden sich nur wenig von denen der Straßenkinder weltweit. Das meint Oleksandr, der die Jungen und Mädchen auf der Straße regelmäßig besucht: "In der Regel sagen alle Kinder, dass das Leben zu Hause unerträglich war. Die Mutter prügelt, der Vater trinkt oder sitzt im Gefängnis. Meistens sind das Kinder aus zerrütteten Familien."
Oleksandr studiert eigentlich Jura. Er arbeitet schon lange Zeit mit im von Andrij Suchorukow gegründeten Zentrum für soziale Unterstützung - eigentlich ein Ein-Mann-Betrieb, finanziell unterstützt durch Spenden der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte. Andrij Oleksandrowytsch Suchorukow war früher Abgeordneter im ukrainischen Parlament. Für die Straßenkinder von Kiew ist der weißbärtige, drahtige Mann um die 60 so etwas wie ein Vater. Er versorgt sie mit dem nötigsten: Hier ein T-Shirt, dort ein Paar Schuhe - oder einfach mal Unterschlupf finden in seiner Wohnung - eine ruhige, warme Nacht und eine Dusche. Gesetze und Beschlüsse gibt es zwar reichlich in der Ukraine, schließlich hat das Land auch die UN-Kinderrechtskonvention von 1989 unterzeichnet. Doch das Geld, mit dem die Regierung einige wenige staatliche Programme subventioniert, erreicht die Empfänger nicht. Deswegen existieren die Rechte der obdachlosen Kinder in den meisten Fällen nur auf dem Papier.
Andrij Suchorukow: "Die Politik unserer Regierung kennt keine Straßenkinder. Unser Staat will diesen Begriff einfach nicht anerkennen. Er sagt, dass jedes obdachlose Kind sofort in einem Heim untergebracht wird, aber die Kinder fliehen aus diesen Heimen. Die staatlichen Behörden mögen es nicht, wenn jemand sich in ihre Politik einmischt. Uns wurde zum Beispiel vorgeworfen, dass wir mit Kinderorganen handeln würden. Es ist also eine regelrechte Konfrontation zwischen dem Staat und den freiwilligen Organisationen. Von partnerschaftlichen Beziehungen kann nicht die Rede sein."
Der 12-jährige Pawlo erzählt mit wenigen Worten, warum er aus dem Heim geflohen ist: "Ja, ich bin abgehauen weil es mir da nicht gefallen hat. Was soll daran Gutes sein? Mir geht es hier besser. Da wurden wir von den Erziehern die ganze Zeit nur verprügelt."
Die Perspektive dieser Kinder? Darüber zu sprechen fällt Oleksandr und Andrij schwer - angesichts des Heeres an Arbeitslosen in der Ukraine und der Armut im Land. Zurückkehren in ein normales sesshaftes Leben - das sei für die meisten der Kinder nicht möglich, meint Oleksandr: "Es ist schwer zu sagen, was die Kinder dazu bringt, auf die Straße zu gehen. Aber wenn sie einmal auf der Straße gelebt haben, kehren sie meistens dorthin zurück. Sie finden da zwar keine Geborgenheit, aber Freiheit. Man kann trinken und Klebstoff schnüffeln. Sie waschen sich nicht und ziehen ein halbes Jahr lang ihre Schuhe nicht aus. So ist es dort."
Gebe es nicht Leute wie Andrij Suchorukow - die ukrainische Gesellschaft würde die Straßenkinder von Kiew vergessen. Seine Arbeit stößt auf wenig Verständnis. Ehrenamtliches Engagement für sozial Schwächere ist in der Ukraine so gut wie unbekannt. Immer noch wirkt an vielen Stellen das Menschenbild des Kommunismus nach, als der Mensch vor allem eines sein musste: produktiv. Wer das nicht leisten kann, der landet am Rand der Gesellschaft - das ist auch heute noch so. Doch der Überlebenskampf ist härter geworden - soziale Netze existieren nicht. Jeder ist mit seinem eigenen Überleben beschäftigt. 50 Euro in etwa verdienen die Ukrainer durchschnittlich im Monat, Rentner erhalten nicht einmal 20 Euro. Niemand hat etwas zu verschenken in der Ukraine, das weiß auch Andrij Suhorukow. Doch die Härte, mit der ihm und den Kindern Nachbarn, Bekannte oder auch Beamte begegnen, die macht ihn zornig.
Andrij Suhorukow: "Ich dachte, meine Arbeit wird bei den Leuten Mitleid hervorrufen, dass sie Kleidung oder Essen spenden - aber im Gegenteil, viele meiner Nachbarn erstatten Anzeige bei der Polizei und beschweren sich: Warum versammelt dieser seltsame Mann hier um sich diese Kinder?"
Die ukrainische Gesetzgebung behindere ehrenamtliche Tätigkeit, meint die Soziologin Nadija Komarowa: "Von staatlicher Seite gibt es außer Waisenheimen nichts. Helfen können eigentlich nur gemeinnützige und religiöse Organisationen, aber es gibt keine gesetzlichen Grundlagen. Dass heißt, sie haben kein Recht, die Kinder für längere Zeit bei sich zu beherbergen. Diese Organisationen sind deshalb von den Beamten abhängig. Und einer dieser Beamten hat mir einmal entgegen gehalten: ‚Der Staat liefert doch die Obdachlosen an solche Organisationen. Wo ist also das Problem? Diese Organisationen sollten still und dankbar sein, dass sie sich damit beschäftigen können.‘"
Den Kindern von Kiew sieht man die Strapazen an: Viele zeigen Spuren der Gewalt - sie werden verprügelt oder vergewaltigt. Kriminelle bedienen sich der Kinder: An jeder fünften Straftat ist ein Straßenkind beteiligt. Sie brechen in Autos ein, bestehlen Kioske, Geschäfte und Wohnungen. Das alles machen sie im Austausch für Protektion und Schutz, für etwas Essen, manchmal auch für ein Spielzeug. Vor Gewalt sicher sind sie dennoch nicht, wie der 9-jährige Mykola erzählt: "Manche Leute drohen uns mit der Pistole. Aber es gibt auch einige, die uns helfen. Meistens sind das Ausländer, Ungarn zum Beispiel, unsere Leute, die Ukrainer aber helfen uns nicht." (MO)