Die unbekannte Seite von Winston Churchill
13. November 2016Es gibt nicht viele Städte, die von sich behaupten können, das Leben von drei Nobelpreisträgern geprägt zu haben. Lübeck im Bundesland Schleswig-Holstein kann das. Der Schriftsteller Thomas Mann, der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt und der Schriftsteller Günter Grass wurden in der norddeutschen Hansestadt geboren oder verbrachten Lebensabschnitte dort.
Nun gesellt sich der Geist eines weiteren Nobelpreisträgers zumindest zeitweise dazu: der von Winston Churchill (1874-1965). Das Günter-Grass-Haus zeigt noch bis zum 12. Februar 2017 Werke des ehemaligen britischen Premiers. Denn was heute nahezu in Vergessenheit geraten ist, Churchill war nicht nur Politiker, sondern auch Maler und Schriftsteller. 1953, im Alter von 79 Jahren, bekam er den Literaturnobelpreis überreicht. Auch Günter Grass (1927-2015) wurde 1999 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Auch er war mehr als nur ein Autor. Er zeichnete, formte Skulpturen und war lange politisch aktiv. Beide - Grass und Churchill - wurden durch den Krieg geprägt und engagierten sich für ein geeintes Europa.
Churchill malte, um seinen Geist zu fordern
Die Sonderausstellung im Grass-Haus präsentiert neben Schriften und Dokumenten aus Churchills Leben auch elf Ölgemälde, die er zwischen 1920 und 1950 malte. Mehr als 500 Gemälde insgesamt schuf der britische Nationalheld, der die Malerei erst mit 40 Jahren als Hobby für sich entdeckte.
"Uns interessierten die Gemälde, die Geschichten erzählen", sagt Grass-Haus-Direktor Jörg-Philipp Thomsa der DW. "In der Kombination aus Wort und Bild erfahren die Besucher eine unbekannte Seite von Winston Churchill." Es gehe nicht darum, ihn in den Künstlerolymp zu hieven. Churchill sei kein professioneller Künstler gewesen, aber eben auch kein unbedarfter Laie. "Er hat gemalt, um drohende Depressionen zu bekämpfen und seinen Geist zu fordern", erklärt Thomsa.
Es ist das erste Mal überhaupt, dass Bilder Churchills in Deutschland gezeigt werden. Normalerweise verlassen die Gemälde den ehemaligen Landsitz des Staatsmanns im englischen Chartwell, der heute ein Museum beherbergt, nicht. Aber die alljährliche Winterpause und ein Versicherungsschutz in zweistelliger Millionenhöhe machten für die Originale den Weg nach Lübeck frei.
Friedliche Landschaften und eine politische Botschaft
Einige Exponate sind in Öl festgehaltene friedliche Landschaften, in denen das Blau des Himmels fester Bestandteil ist. Aber auch eine Interpretation eines Gemäldes des US-Malers John Singer Sargent, das die im Ersten Weltkrieg zerstörte Kathedrale von St. Vaast zeigt, ist zu sehen. Ebenso ist eines der seltenen Porträts ausgestellt. Es zeigt den Piloten Jack Scott, der Churchill bei einem Flugzeugabsturz 1919 das Leben gerettet hat.
Thomsa hat ein Lieblingsbild unter den Ausstellungsstücken. Es zeigt eine Tempelruine. Churchill hatte es 1956 bei einem Deutschland-Besuch dem damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer geschenkt. "Die Symbolik ist evident", ist Thomsa überzeugt. "Die Tempelruine erinnert an das zerstörte Europa und den Geist der Antike. Das hat Adenauer verstanden und auch als noble Geste bezeichnet."
Der europäische Gedanke Europa eint Churchill und Grass
Churchill setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg für eine europäische Aussöhnung und die Einheit Europas ein. Gerade deshalb ist die Ausstellung in Lübeck derzeit so aktuell. "Churchill wurde im Zusammenhang mit dem Brexit in Zeitungen und Medien immer wieder mit seinen Gedanken zu Europa zitiert", sagt Thomsa. Churchills Ideen seien so aktuell wie schon seit vielen Jahrzehnten nicht mehr, sagt auch Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Torsten Albig (SPD), als er die Ausstellung eröffnet. "Wir erleben gerade ein Europa, das auseinanderfällt. Beide - Grass und Churchill - haben die Lehren des Zweiten Weltkrieges sehr genau aufgearbeitet. Beide geben uns wichtige Warnsignale, was passiert, wenn man nicht aufpasst." Für Europa müsse man arbeiten und kämpfen.
Das hatten sowohl Grass als auch Churchill verinnerlicht, so unterschiedlich sie waren. Churchill, ein konservativer britischer Gentlemen, der Champagner zum Mittagessen trank; Grass, ein Linker, der für die Sozialdemokraten in den Wahlkampf zog und in seinen Texten die "kleinen Leute" porträtierte. "Für Grass waren es nicht die großen Männer, die Geschichte machen, sondern wir alle", so Thomsa. "Diesen Gegensatz im Grass-Haus zu behandeln, finde ich sehr spannend."