Die Terrormiliz IS kehrt zurück
25. Mai 2020Es brennt im Nordirak. Dicke Rauchschwaden steigen über Weizenfeldern auf. Die Terrormiliz des sogenannten "Islamischen Staats" (IS) hat sie in Brand gesetzt. Die Bevölkerung soll eingeschüchtert werden. Niemand, das ist die Botschaft, darf mit den staatlichen Behörden zusammenarbeiten.
Seit Wochen häufen sich Überfälle, detonieren Sprengfallen, sprengen sich Selbstmordattentäter in die Luft. So wie am 28. April. Da marschierte ein Selbstmordattentäter auf die Geheimdienstzentrale im nordirakischen Kirkuk zu. Als die Wachleute aufmerksam wurden, zündete er seine Bombe noch bevor er das Gebäude erreichte.
Nachdem die Terror-Dschihadisten zuvor vor allem in der Nacht und in abgelegenen Regionen zugeschlagen hatten, markierte der Anschlag von Kirkuk einen Strategiewechsel.
Am 1. Mai griffen IS-Terroristen direkt Kämpfer einer irakischen Miliz nördlich von Bagdad an. Am Ende waren zehn Angehörige der sogenannten Volksmobilisierungseinheiten (PMU) tot. Das Besondere: Der IS hatte mit mehreren Gruppen von verschiedenen Seiten angegriffen. Und er hatte Bomben am Straßenrand vorbereitet, die für die anrückende Verstärkung zur Todesfalle wurden.
Für Sam Heller sind solche koordinierten und komplexen Angriffe Hinweise für eine "Organisation, die wieder echte Kraft zurückgewinnt". Der Berater der Nichtregierungsorganisation Crisis Group beobachtet die Entwicklung im Mittleren Osten von Beirut aus. Aufgefallen ist ihm dabei, dass der IS in seinen eigenen Berichten inzwischen häufiger von längeren Feuergefechten mit irakischen Sicherheitskräften berichtet und von komplexeren Operationen, im Gegensatz zu den früheren asymmetrischen Angriffen.
Totgesagte leben länger
Im März 2019, vor gerade einmal 14 Monaten, hatte das Terror-Kalifat in der Schlacht um Baghus den letzten Rest seines Territoriums verloren. Im Oktober töteten US-Spezialkräfte den selbst ernannten Kalifen des IS in Syriens Nordwestprovinz Idlib unweit der türkischen Grenze.
Aber am 20. Januar warnte ein Bericht der Vereinten Nationen an den UN-Weltsicherheitsrat schon im ersten Satz seiner Zusammenfassung, der "Islamische Staat" habe "sowohl in Syrien als auch im Irak begonnen sich erneut zu behaupten", auch durch "zunehmend kühnere Angriffe". Der IS in Syrien habe sich als Untergrund-Netzwerk neu aufgestellt, ähnlich wie es nach dem Fall des IS im Irak 2017 geschehen sei. Befreit von der Verantwortung, Territorium verteidigen zu müssen, habe es einen bedeutenden Anstieg von Angriffen in zuvor ruhigen Regionen gegeben, schreiben die UN-Autoren weiter.
"Der IS ist weiterhin eine der stärkeren Terrororganisationen weltweit", urteilt der Terrorismusexperte Guido Steinberg im DW-Gespräch - auch mit Blick auf die zahlreichen Ableger der Terror-Dschihadisten in aller Welt. Aber auch, wenn man nur auf den IS in Syrien und im Irak schaut, sei die Organisation stark, betont der Islamwissenschaftler, und setzt zu einem Vergleich an: "Bevor der IS zu seinem großen Aufstieg 2013/2014 ansetzte, hatte er im Jahr 2010 nur etwa 700 Kämpfer zur Verfügung. Heute hat der IS im Irak und in Syrien jeweils 2000 bis 3000 Mann, und das zeigt die Gefahr, die droht."
Andere Schätzungen gehen sogar von deutlich höheren Zahlen aus. Ende Januar sprach der US-Sonderbotschafter für die Anti-IS-Koalition, James Jeffrey, von 14.000 bis 18.000 IS-Terroristen in Syrien und im Irak.
Prall gefüllte Kriegskasse
Auch finanziell scheinen die Terroristen nach dem territorialen Untergang des Kalifats gut versorgt zu sein. Das suggeriert jedenfalls ein Bericht vom 11. Mai des US-General Inspekteurs für die Operation Inherent Resolve, OIR, wie der US-Militäreinsatz gegen den IS genannt wird. Der Bericht zitiert die US-Finanzbehörde mit der Auskunft, der IS habe "Zugang zu finanziellen Reserven von Hunderten Millionen Dollar". Außerdem generiere der IS weiterhin Geld durch kriminelle Aktivitäten und kann durch Kuriere und andere Finanzdienstleister problemlos Geld in der Region bewegen.
Nichtsdestotrotz definiert der OIR-Bericht die Aktivitäten des IS als "Aufstand auf niedrigem Niveau". Zudem sei die Terrormiliz nicht in der Lage, Territorium zu halten. Dafür aber mache sie es für jeden anderen unmöglich, sicher in diesen Regionen zu operieren, gibt Dan Smith zu bedenken. "Der IS operiert heute eher wie eine klassische Guerilla-Miliz und sehr viel weniger als das selbsterklärte Kalifat vor fünf Jahren", führt der SIPRI-Direktor weiter aus.
Zwei Verbündete
Die Dschihadisten haben im Moment zwei Verbündete: Zum einen das Coronavirus, zum anderen die Konflikte in der Region. Erst im März hatte der IS seine Anhänger aufgefordert, die Angriffe zu verstärken. Regierungen weltweit seien durch den Kampf gegen COVID-19 abgelenkt. Die Corona-Pandemie habe die Operation Inherent Resolve "deutlich beeinträchtigt", heißt es auch in dem OIR-Bericht. Die vor allem aus kurdischen Kämpfern bestehenden Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) etwa haben ihre Militäroperationen eingestellt. Im Irak sind die Trainingsprogramme für die Streitkräfte auf Eis gelegt. An denen ist auch die deutsche Bundeswehr beteiligt.
Besonders profitiert der IS von den Konflikten in der Region: Speziell zwischen der Türkei und den nordsyrischen Kurden sowie zwischen den USA und dem Iran. Die waren Anfang des Jahres massiv eskaliert nach der Tötung des iranischen Generals Soleimani durch die USA, "eines der größten Feinde des IS", wie Dan Smith festhält. Dieser Angriff, bei dem auch der General einer irakischen PMU-Miliz getötet wurde, hat das Klima gegenüber den USA so sehr verschlechtert, dass die Stationierung von US-Truppen im Irak grundsätzlich in Frage steht. Außerdem kam es immer wieder zu Angriffen auf US-Einrichtungen.
Rückzug der USA
In der Folge haben die USA im Irak vier Stützpunkte aufgegeben und sich auf zwei Militärbasen zurückgezogen. Was sich bei der Bekämpfung des IS bemerkbar macht, sagt Guido Steinberg. "Weil die Amerikaner nicht mehr so intensiv wie früher mit den irakischen Sicherheitskräften ins Feld gehen."
Auch in Syrien seien "die Amerikaner nur noch mit ein paar hundert Mann vertreten", beobachtet der Terrorexperte. Das macht Steinberg deshalb Sorge, weil die "Amerikaner ein besonderes Augenmerk auf die ausländischen Kämpfer haben, die über den Irak und Syrien hinaus zu einer Gefahr werden können."
Das gilt auch für die rund 2000 ausländischen IS-Kämpfer in nordsyrischen SDF-Gefängnissen. Vor seinem Tod hatte der frühere IS-Chef Bagdadi noch die Befreiung der Gefangenen in einem Video als höchste Priorität bezeichnet. Die Sicherheitslage in den von kurdischen Kämpfern gesicherten Gefängnissen war ohnehin schon prekär. Verschärft wurde sie durch die "Operation Friedensquelle" genannte türkische Invasion in den nordsyrischen Kurdengebieten im vergangenen Oktober. Schon da nutzten Hunderte Gefangene die Kriegswirren zur Flucht. Und weil die kurdische Selbstverwaltung mehr Ressourcen in den Konflikt mit der Türkei und ihren Milizen investieren muss, stehen weniger Bewacher für die Gefängnisse bereit. Immer wieder kommt es seither zu Ausbruchsversuchen und Aufständen.
Der IS ist zwar jedermanns Feind. Aber er ist nicht jedermanns wichtigster Feind. Davon hat die Terrormiliz schon in der Vergangenheit profitiert. Sie sollte keine Gelegenheit bekommen, das erneut auszunutzen.