Die Radikalisierung der Lamia K.
11. August 2018Eigentlich, da sind sich alle einig, war Lamia K. eine ganz "normale" Frau. Unauffällig - so beschreibt eine Bekannte sie - eine Mutter, die 2014 ihre Taschen packte und mit ihren beiden Töchtern nach Syrien zog. Ihre Töchter waren damals noch Teenager, als sie nach Syrien gingen - zum selbsternannten "Islamischen Staat", der gerade das Kalifat ausgerufen hatte und Dorf um Dorf, Stadt um Stadt in Syrien und im Irak unter seine brutale Kontrolle brachte.
Aus Gesprächen mit flüchtigen Bekannten und ehemaligen Freunden fügt sich ein Bild einer gebildeten Frau zusammen, um die 50 Jahre alt, geschieden, die sich immer mehr aus ihrem Umfeld zurückgezogen hatte.
Lamia K. stammt aus einer Mittelschicht-Familie in Rabat und war in den 1990ern Jahren nach Deutschland gezogen, um mit Hilfe eines Stipendiums Germanistik in Trier zu studieren. Dort lernte sie den Mann kennen, der für sie zum Islam konvertierte und mit dem sie drei Kinder bekam: einen Jungen und zwei Mädchen.
In Trier, einer beschaulichen Universitätsstadt in Rheinland-Pfalz, gab es nur wenige Frauen mit Migrationsgeschichte. Daher kannte man sich, erinnert sich eine andere Deutsch-Marokkanerin, mit der sich Lamia K. gelegentlich auf ein Getränk traf.
Sie beschreibt eine selbstbewusste Frau, die Konflikte nicht scheute und offen ihre Meinung sagte. Eine Muslima, die in Deutschland ihr Kopftuch ablegte und an hohen Feiertagen in die Moschee ging, "aber konservativ oder radikal, das war sie nicht".
"Normal", "unauffällig", "liberal" und "weltoffen" - diese Worte fallen immer wieder in den Gesprächen mit den Menschen, die Lamia K. kannten.
Eine Frau, die sich plötzlich veränderte
Später zog die Familie in die Landeshauptstadt Mainz, wo K.s Mann arbeitete. Damals begann ihre Veränderung - aus der weltoffenen, liberalen Frau wurde eine andere, eine radikalere, gläubigere Frau, die sich dazu entschied, mit ihren Kindern in den Krieg zu ziehen.
"Ich kann das nicht nachvollziehen, das ist einfach unvorstellbar", so fasst eine ehemalige Bekannte den Wandel zusammen, man hört noch immer die Unsicherheit, den Schock in ihrer Stimme.
Lamia K. und ihr Mann trennten sich, als die Kinder noch klein waren. Sie zog mit ihnen für einige Monate nach Marokko, dann kam sie wieder zurück nach Deutschland - in den Südwesten nach Mannheim.
Warum sie nach Mannheim zog, ist unklar. Die Stadt sei keineswegs ein "Superhotspot" für Islamisten, heißt es aus Sicherheitskreisen. Vielleicht habe sie dort Freunde gehabt, mutmaßt eine Bekannte, aber sicher sei sie sich nicht.
Lamia K. und ihre Familie lebten dort zurückgezogen, erinnert sich eine Frau: Sie sei aufgefallen in ihrem schwarzen, langen Rock und Schleier und mit ihrer Tochter mit Behinderung.
Radikalisiert im Internet
"Mit Leuten wie uns gab sie sich nicht ab", sagt die Frau, die auch aus Marokko stammt. Lamia, das sagt sie noch, sei verschlossen gewesen, zurückgezogen. "Ich habe manchmal gedacht, dass sie sich vielleicht alleine fühlt."
Sie lebte immer mehr, so scheint es, in einer Parallelwelt: in den Online-Foren des Internets, in denen die Terrororganisation IS gezielt auf der Lauer nach Rekruten lag für ihren selbsternannten Staat. Sie waren auf der Suche nach Menschen, die leicht zu beeinflussen waren, die getrieben waren von dem Gefühl von Wut, Ausgrenzung, oft auch Minderwertigkeit, die die grausamen Bilder von Tod und Krieg nicht aus ihren Köpfen bekamen. Die Radikalisierung, sagen Experten, kann sich über Monate, sogar Jahre hinwegziehen. Menschen aus muslimischen, christlichen, aber auch nichtreligiösen Familien sind dem IS gefolgt. So wie Lamia K. und ihre Töchter. Sie gingen im August 2014 nach Syrien, ihr Sohn blieb zu Hause. Ihr erstes Ziel war Rakka, die vermeintliche Hauptstadt des selbsternannten Kalifats. Später beantragen sie beim IS den Umzug nach Mossul, weil dort die Versorgungslage besser gewesen sein soll.
"Das ist eine Tragödie, ich kann gar nicht verstehen, wie das passiert ist", sagt eine Freundin. Und: "Wie kann eine selbstbewusste Frau sich so beeinflussen lassen?"
Lamia K.s Fall ist ungewöhnlich, weil sie schon älter war, als sie sich radikalisierte. Viele der rund 1000 Deutschen, die sich nach Angaben des Verfassungsschutzes 2013 dem IS angeschlossen haben, waren oft jünger - oft Anfang bis Mitte 20, manche sogar noch Teenager.
Deutsche Behörden gehen davon aus, dass etwa ein Drittel der Menschen, die sich terroristischen Gruppen in Syrien und dem Irak angeschlossen haben, bereits zurückgekehrt sind, darunter auch rund 50 Frauen. Das Innenministerium schätzt, dass sich etwa 270 deutsche Frauen und ihre Kindernoch im Kriegsgebiet in Syrien und im Irak befinden und Dutzende von den lokalen Behörden mit ihren Kindern in Gefängnissen und Lagern eingesperrt sind.
Darunter: Lamia K, ihre ältere Tochter Nadia P. und ihr Baby, das von einem IS-Terroristen stammt. Die jüngste Tochter von K., die eine körperliche und geistige Behinderung hatte, soll im Irak gestorben sein. Wohl bei einem Bombenangriff. Nachprüfen kann die DW das aber nicht.
Frauen müssen sich irakischer Justiz stellen
Lamia K. und Nadia P. wurden zusammen mit einer Gruppe von anderen Frauen und ihren Kindern 2017 von irakischen Soldaten in Mossul aufgegriffen. Nach einem blutigen, monatelangen Kampf befreiten die irakischen Truppen Mossul schließlich von der Terrorherrschaft des IS. Die Frauen und das Kleinkind wurden in ein Gefängnis in Bagdad transferiert.
Dort mussten sie sich, wie auch andere Frauen, wegen ihrer Verbindung zum "Islamischen Staat" der irakischen Justiz stellen: Anfang des Jahres wurde Lamia K. von einem Sondergericht zu Tode verurteilt, wegen "logistischer Unterstützung" der Terrorgruppe. Im April wurde die Strafe in lebenslänglich umgewandelt.
Dann, Anfang August, wurde ihre Tochter Nadia P. zu lebenslanger Haft verurteilt. Während der Verhandlung soll Nadia, so zitieren sie Nachrichtenagenturen, bestritten haben, an die IS-Ideologie zu glauben. Allerdings soll sie zugegeben haben, von der Miliz ein monatliches Gehalt erhalten zu haben. Auch andere ausländische Frauen sollen nach Informationen der DW monatliche Zahlungen bekommen haben.
Nadia P.s Verteidiger erklärte in der Verhandlung, dass sie zum Zeitpunkt der von ihr zur Last gelegten Tat minderjährig gewesen sei. Die Hochzeit seiner Mandantin mit einem IS-Dschihadisten bezeichnete er als "Vergewaltigung durch eine bewaffnete Gruppe, keine von einem Erwachsenen bewusst getroffene Entscheidung".
Menschenrechtsorganisationen kritisieren, dass die Prozesse gegen ausländische Terroristen und ihre Frauen oft im Schnellverfahren abgehandelt würden, manchmal dauerten sie nur wenige Minuten, und Folter sei weit verbreitet. Oft würden Verteidiger ihre Mandanten erst bei der Verhandlung treffen. Die Richter bemühten sich kaum, Beweise für die angeblichen Taten zu sammeln, sagte Belkis Wille, Irak-Expertin von Human Rights Watch, die regelmäßig in Bagdad die Verfahren beobachtet.
Das Problem sei, dass die irakischen Behörden annehmen, dass die Angeklagten freiwillig nach Syrien oder den Irak gereist seien, um sich dem IS anzuschließen. "Darum gibt es den starken Wunsch seitens der irakischen Justiz, gegen Ausländer härtere Strafen zu verhängen", sagte Wille der DW. "Sie erklären das so: Es ist das eine, ob du in einem Dorf lebst und eines Morgens aufwachst und merkst, dass der IS dein Dorf überrannt hat, aber etwas völlig anderes, ob du dich entschieden hast, deine Heimat zu verlassen und nach Syrien zu reisen, um dich dem IS anzuschließen."
Wille ist überzeugt, dass die irakischen Behörden keine Ausnahmen für Frauen machen: "Wer sich als Ausländer im Gebiet des IS aufgehalten hat, wird von den irakischen Behörden automatisch für schuldig erklärt, das gilt auch für die Frauen." Richter zeigten keinerlei Interesse daran, tatsächlich zu überprüfen, ob die Frauen gegen ihren Willen nach Syrien und in den Irak gebracht worden seien, etwa durch ihre Ehemänner oder andere Verwandte. Das führe dazu, kritisiert Human Rights Watch, dass Menschen, die für den IS töteten, oft die gleichen Strafen erhielten, wie die, die Terroristen heirateten und mit ihnen Kinder bekamen. Lamia K. sagte bei ihrer Vernehmung, sie habe einen Mann im Internet kennengelernt, der habe ihr vorgeschwärmt, wie schön es im "Kalifat" sei. "Ich dachte, dass da ein Boden ist, in dem der Islam gerecht ist", sagt sie aus. Doch an ihrer Unbedarftheit gibt es Zweifel. Denn dem Verfassungsschutz war ihre Gesinnung bekannt.
Nach Recherchen der Nachrichtenagentur AFP haben die irakischen Gerichte mehr als 300 Menschen, darunter etwa 100 Ausländer, wegen Mitgliedschaft beim IS zum Tode verurteilt, und etwa genauso viele sollen zu lebenslanger Haft verurteilt worden sein. Offizielle Statistiken gibt es nicht.
Heikles Thema in Deutschland
Die Urteile gegen deutsche IS-Kämpfer und ihre Frauen sind in Deutschland ein schwieriges, ja heikles Thema: Irak ist ein souveräner Staat und deutsche Diplomaten wollen auf keinen Fall den Anschein erwecken, eine Sonderbehandlung für ihre Bürger zu verlangen. Und so beobachten die Behörden die Gerichtsverfahren und versuchen, wenn Todesurteile verhängt werden, hinter den Kulissen vorsichtig Einfluss zu nehmen. Irakische Diplomaten und Behörden seien sich sehr wohl bewusst, dass Todesurteile für Deutschland problematisch seien und täten das ihre, um schwierige Situationen zu vermeiden, heißt es immer wieder in Hintergrundgesprächen, die die DW geführt hat.
Das Auswärtige Amt und andere deutsche Stellen setzen sich nach Informationen der DW dafür ein, dass verurteilte Deutsche in der Zukunft ihre Haftstrafe in Deutschland absitzen können und bemühen sich auch, Frauen und Kinder zurückzuholen. Aber angesichts der Tatsache, dass es keinerlei öffentliche Unterstützung dafür gibt, Menschen, die für die Mitgliedschaft einer Terrororganisation verurteilt worden, nach Deutschland zu holen, hängen die Behörden dies nicht an die große Glocke. Auch die genaue Zahl der Frauen, die in Bagdad und Erbil konsularisch betreut werden, darf die DW nicht veröffentlichen.
Gleichzeitig laufen in Deutschland etliche Ermittlungsverfahren gegen Frauen - allein in diesem Jahr "im hohen zweistelligen Bereich", so eine Sprecherin des Generalbundesanwalts. Die Linie der deutschen Justiz, die sich in den vergangen Wochen herauskristallisiert hat, ist, dass die alleinige Tatsache, dass Frauen im IS-Gebiet gelebt haben, für eine Strafverfolgung nicht ausreicht. Sie müssen sich darüber hinaus zum Beispiel auch in Onlineforen aktiv beteiligt haben, oder etwa Teil der Sittenpolizei gewesen sein.
Lamia K.s Freunde und Bekannte hadern noch immer damit, wie sie sich so verändern konnte, warum sie mit ihren Töchtern zum "Islamischen Staat" zog und was sie dort genau tat: "Ich kann gar nicht verstehen, wie das passiert ist. Ich finde einfach keine Erklärung", sagt eine von ihnen. "Das ist doch alles eine schreckliche Tragödie."