Im Netz Politik machen
31. Mai 2012"Sehr geehrte Frau Doktor Merkel, warum wird der Solidaritätszuschlag jetzt nicht zur Finanzierung der Energiewende verwendet?" fragt Gerhard Oechsler in einer freundlich formulierten Online-Anfrage an die deutsche Kanzlerin.
Jürgen Krampf möchte von Angela Merkel wissen, warum er Rundfunkgebühren zahlen soll, nur weil er ein empfangsfähiges Rundfunkgerät besitzt, aber kein öffentlich-rechtliches Programm nutzen will. Und dann setzt er mit einem Augenzwinkern nach: "Kann ich auch Kindergeld beantragen? Habe zwar keine Kinder aber das Gerät hierzu wäre vorhanden."
Auch weniger unterhaltsame aber dennoch brennende Fragen zu Hartz IV, zur Familienpolitik oder zum Euro-Rettungsschirm gehen regelmäßig an die Kanzlerin. Und an alle anderen 619 Abgeordnete des deutschen Bundestags.
Nachzulesen ist das auf www.abgeordnetenwatch.de. Hier gibt es die Möglichkeit für Bürgerinnen und Bürger, sich mit Fragen, Anliegen und Vorschlägen direkt an die Bundestagsabgeordneten zu wenden. Moderiert wird das Ganze natürlich auch: Ein Team von 15 Studenten und Studentinnen liest jede eingehende Anfrage durch und gibt sie dann frei. Allerdings nur, wenn sowohl Fragen als auch Antworten dem Kodex entsprechen: Keine Beleidigungen, keine Fragen nach dem Privatleben, kein Gewalt verherrlichender Inhalt, keine anonymen Anfragen. Dennoch bekommen die Politiker alles zugesandt – auch die nicht veröffentlichten Anfragen. "Das gibt den Politikern ein gutes Bild von der Stimmungslage", erklärt Gregor Hackmack, einer der Initiatoren der Website. "Sie bekommen das sozusagen zur Kenntnis mitgeliefert, damit sie wissen, womit wir sie auf der Seite verschont haben."
Schreibfreude und Ignoranz
Um die 150 Fragen werden pro Tag bearbeitet. "Das ist normal, wenn nicht gerade Wahlkampfzeit ist", sagt Gregor Hackmack. Die meisten Politiker antworten höchstselbst – sogar recht zeitnah. Der fleißigste Schreiber ist der Linken-Fraktionschef Gregor Gysi - er rangiert an erster Stelle auf abgeordnetenwatch.de. Dicht gefolgt vom Grünen Hans Christian Ströbele, Christian Lindner (FDP) und Andrea Nahles (SPD) – tatsächlich nehmen sogar Spitzenpolitiker diese Art von Bürgernähe ernst. Manche Antworten fallen knapp aus, andere haben Witz, wieder andere befassen sich Punkt für Punkt mit der Anfrage. Über den Inhalt hinaus sind das wertvolle Informationen – nicht nur für den Fragesteller sondern für jeden, der es liest. Man sieht ein bisschen, wie der Mensch hinter der Politikerfassade tickt.
Bemerkenswert ist übrigens das Ranking der Abgeordneten Angela Merkel. Sie hat noch keine der 593 an sie gerichteten Fragen beantwortet und steht damit an letzter Stelle. "Seit 2005 hat sie es konsequent geschafft, die Fragen zu ignorieren und auszusitzen", so Gregor Hackmann. Antworten geben - das passe auch nicht zu ihrem Politikstil. Schließlich wisse man ja nie, woher der Wind weht. Hackmann nennt das Beispiel Atomausstieg. Hätte sie nach dem Fukushima-GAU im März 2011 eine Frage zur Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke beantwortet, wäre sie anders ausgefallen als vor dem Unglück, als die Bundesregierung noch an der Atomkraft festgehalten hatte. Frau Merkel lässt sich ungern ertappen – daher schweigt sie sich lieber aus.
Recht auf Zugang zu Informationen
Wieviel kostet es, wenn ein Bundesminister von Berlin zu einer Konferenz nach Brüssel fliegt? Wie nah wird die neue ICE-Trasse an unserem Dorf vorbei führen? Welchen Einfluss hat ACTA (das Handelsabkommen gegen Produktpiraterie) auf die Entwicklungsländer? Unterschiedlicher könnten die Fragen nicht sein, die wissbegierige User auf dem Portal www.frag-den-staat.de stellen. Hier gibt es für jeden Bürger Hilfestellung, wenn er Einsicht in bestimmte Akten verlangt, wenn er politische Prozesse verfolgen möchte oder wenn er die Ergebnisse eines längst vergessen geglaubten (unter den Teppich gekehrten) Gutachtens einfordert. Was viele nicht wissen: Hierzu hat man ein im Grundgesetz verankertes Recht – das Informationsfreiheitsrecht. Christian Humborg, Geschäftsführer von Transparency International Deutschland begleitet das Projekt seit Beginn: "Viel zu wenig Bürger haben von diesem Recht bisher Gebrauch gemacht. Und das war der Anlass für uns zu sagen, wir wollen das jetzt mal leichter machen, weil wir doch das Gefühl hatten, dass in Deutschland die Schwelle, sich mit einer Informationsfreiheitsanfrage an die Behörden zu wenden, immer noch viel zu hoch ist."
Auf dem Portal kann man sich einloggen und zu seinem Thema die Anfrage stellen, also: "Woher bekomme ich X?" oder "Warum gibt es kein Gesetz zu XY?" oder "Geben Sie mir bitte eine Liste aller XYZ". Die Seite übermittelt die Anfrage dann an die entsprechende Behörde. Manche Auskünfte kosten Geld – in seltenen Fällen sogar mehrere Hundert Euro. Vor unvorhergesehenen Kosten kann man sich allerdings schützen, indem man in der Anfrage formuliert, wie viel das Ganze höchstens kosten darf. Alles – Anfragen wie auch die Reaktionen, kann man auf der Seite sehen.
Wenn der Bundestag sich mit UFOS befasst
Dennoch gibt es Einschränkungen, wie Christian Humborg erklärt: "Die Grundlage ist, dass die Behörden alles rausrücken müssen. Doch manche Ausnahmen leuchten auch ein – niemand hätte doch ein Interesse daran, dass jemand beim Einwohnermeldeamt alle Geburtstage und Adressen von den Mitgliedern der Gemeinde einsehen kann – also das müssen die Behörden nicht rausgeben." Persönlicher Datenschutz sei der wichtigste Ausschlussgrund, so Humborg, aber viele Sachen würden auch vorgeschoben, sobald sich Firmen und Unternehmen an empfindlicher Stelle getroffen fühlen. "Da müssen die Behörden tatsächlich abwägen, ob der Schutz des Betriebs- und Geschäftsgeheimnisses wichtiger ist oder das allgemeine öffentliche Interesse."
Die skurrilste Anfrage bezog sich auf ein Gutachten beim wissenschaftlichen Dienst des Bundestages, das sich damit befasst hat, ob es UFOs und extraterrestrisches Leben gibt. "Dann wollte jemand dieses Gutachten bekommen, erzählt Christian Humborg, "und dann gab's einen Streit darüber, ob man das veröffentlichen kann. Der Bundestag meinte dazu, das würde Urheberrecht verletzen, was natürlich etwas seltsam ist, weil wir es hier ja doch mit Dokumenten zu tun haben, die von staatlichen Behörden erstellt wurden." Diese Frage wird jetzt sogar vor Gericht ausgefochten.
Zur Adoption freigegeben
Das jüngste Projekt im Netz möchte erreichen, dass Bundestagsabgeordnete mehr über Themen aus der Netzwelt erfahren und lernen. Immerhin entscheiden sie über Vorgänge, die netzpolitisch hochbrisant sind: Vorratsdatenspeicherung, ACTA, Internetzensur. So können Nutzer einen der 620 Abgeordneten "adoptieren", das heißt: Man tritt in regelmäßigen Kontakt zum Politiker, kommuniziert mit ihm und gibt ihm Hilfestellung zu allen netzpolitisch relevanten Themen. Unterstützt wird man dabei vom Verein "Digitale Gesellschaft e.V.", der diese Aktion Anfang Mai gestartet hat. Mitinitiator Markus Beckedahl: "Damit hoffen wir natürlich, den Bürger-Politiker-Dialog zu stärken und einfach mal mit einer kreativen Idee auszuprobieren, was das Internet eigentlich für tolle Möglichkeiten zur Transparenz und Teilhabe bietet."
Wer einen Politiker adoptiert, zahlt eine Spende an den Verein – Hinterbänkler kosten dabei weniger als Spitzenpolitiker. Über seine Erfahrungen mit dem "Adoptivkind" kann man dann in einer Art Tagebuch auf der Seite www.adoptier-deinen-abgeordneten.de berichten. "Im Optimalfall," so Beckedahl, "sehen das Politiker als Chance, dass sie da einen digitalen Entwicklungshelfer bekommen, der ihnen hilft, diese neuen Technologien und Debatten auch zu verstehen, und freuen sich vielleicht über einen Bürger mehr, der auf diese Weise an demokratischen Prozessen teilhaben möchte."
Der SPD-Politiker Lars Klingbeil hat sich direkt mit Begeisterung in die Patenschaft gestürzt – das war keine schwere Aufgabe, denn Klingbeil kennt sich bestens mit Netzpolitik aus. Andere Politiker sind eher zurückhaltend, lassen mit den Antworten auf das Patenschaftsangebot auf sich warten. Sehr viele Abgeordnete stehen noch zur Adoption – darunter die SPD-Chefin Andrea Nahles. Dagegen hat Angela Merkel tatsächlich schon einen Paten. Niemand wundert sich allerdings darüber, dass auf der Seite nichts zu finden ist, was Aufschluss über das Patenverhältnis geben könnte.