IS-Kinder: Sie konnten es sich nicht aussuchen
9. Januar 2018Viele Frauen, die sich dem sogenannten "Islamischen Staat" (IS) angeschlossen haben, heirateten Dschihadisten und bekamen Kinder. Teils sind sie auch schwanger in den Irak oder nach Syrien gereist oder hatten ihre älteren Kinder mitgenommen.
In der deutschen Öffentlichkeit wurde schnell der Ruf laut, man solle den Rückkehrerinnen die Kinder wegnehmen. Für Nora Fritzsche ist das etwas vorschnell. Die Hürden, Kinder aus Familien zu holen, seien sehr hoch, sagt die Fachreferentin für Radikalisierungsprävention der Arbeitsgemeinschaft Kinder und Jugendschutz (AJS) für Nordrhein-Westfalen. "Dafür muss eine konkrete Gefährdung des Kindes vorliegen." Dass die Eltern einer islamistischen Strömung angehören, reicht alleine noch nicht aus. "Man bewertet das Kindeswohl, nicht, was die Eltern denken."
Fritzsche sieht die Jugendhilfe in einer Zwickmühle. Die Mitarbeiter beobachten zwar oft, dass Kinder unter keinen guten Bedingungen aufwachsen, "aber staatliche Institutionen haben nicht das Recht, für jedes Kind die bestmögliche Förderung oder auch nur eine gute Erziehung zu garantieren". Bevor das Jugendamt ein Kind aus einer Familie nimmt, hat es noch andere Möglichkeiten wie eine Familienberatung oder eine Betreuung - denen müssen die Familien aber zustimmen.
Die Kriterien des Jugendamtes
Neben einer Gefährdung der Kinder durch körperliche und seelische Misshandlung oder sexuellen Missbrauch gibt es weitere Merkmale, die beispielsweise bei salafistischen Familien ähnlich wie bei Sekten vorliegen können: "Wenn Kinder sehr stark isoliert werden und in der Außenseiterrolle groß werden, wenn sie sich zu Andersgläubigen abgrenzen müssen, wenn mit Angst gearbeitet wird oder Kinder sich durch starke Regeln gar nicht entfalten können und in ihrer Autonomie eingeschränkt sind", so Fritzsche.
Dass die Eltern straffällig geworden sind, ziehe nicht zwingend eine Kindeswohlgefährdung nach sich. Ohnehin sind deutsche Gerichte aktuell der Ansicht, dass sich Frauen mit ihrer reinen Anwesenheit im IS-Umfeld nicht der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung strafbar machen. Denn anders als Männer müssen sie in der Regel keinen Treueschwur leisten.
Die Bundesanwaltschaft möchte dagegen härter gegen diese Frauen vorgehen, da sie nach ihrer Ansicht die Terrormiliz von innen stärken: als Ehefrauen von IS-Kämpfern sowie als Mütter, die Kinder im Sinne der Terror-Ideologie erziehen. Mit dieser Position ist die Bundesanwaltschaft aber bereits einmal vor dem Bundesgerichtshof gescheitert. Wenn sich das ändern sollte, könnte das die Einschätzung des Kindeswohls entscheidend beeinflussen.
Unklarheit über die Zahl der IS-Kinder
Nach Informationen der Bundesregierung sind seit 2012 mehr als 960 Menschen aus Deutschland zur Terrormiliz "Islamischer Staat" nach Syrien und in den Irak gereist. Etwa 200 Frauen seien darunter gewesen. Ein Drittel dieser Ausgereisten sei aktuell wieder in Deutschland, auch ungefähr 50 Rückkehrerinnen.
Wie die Deutsche Welle aus Sicherheitskreisen erfuhr, gehen Experten davon aus, dass nahezu jede ausgereiste Frau mit mindestens einem Kind zurückkommt. In der Antwort zu einer Kleinen Anfrage der Grünen-Fraktion schreibt die Bundesregierung, sie erwarte "eine niedrige dreistellige Anzahl von Minderjährigen" als Rückkehrer, "wobei der Großteil im Baby- und Kleinkindalter sein dürfte".
Die tatsächliche Zahl ist allerdings unbekannt, da der Verfassungsschutz keine Daten zu unter 14-Jährigen speichern darf und unbekannt ist, wie viele Kinder im Ausland von den Ausgereisten geboren wurden.
Ein Knackpunkt in der Diskussion ist, inwieweit Behörden und Jugendämter überhaupt über rückkehrende Minderjährige Bescheid wissen, um gegebenenfalls eingreifen zu können. Obwohl ungefähr 50 IS-Frauen wieder in Deutschland sind, kennen weder Fritzsche von der AJS noch Thomas Mücke vom "Violence Prevention Network" (VPN) bisher Beispiele von Minderjährigen. Laut Mücke, dem Geschäftsführer des VPN, das im Bereich der Deradikalisierung und Extremismusprävention arbeitet, sind für den Fall der Fälle aber Handlungsabläufe festgelegt.
"Dschihadisten zweiter Generation"
Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen hatte Anfang Dezember vor Kindern und Jugendlichen gewarnt, die "islamistisch sozialisiert und entsprechend indoktriniert aus den Kampfgebieten nach Deutschland zurückkehren." Maaßen sagte, es gebe Kinder und Jugendliche, die in "Schulen" im IS-Gebiet eine "Gehirnwäsche" durchlaufen hätten und in starkem Maße radikalisiert seien. Es komme vor, dass Kleinkinder als Täter für Hinrichtungsszenen in IS-Videos missbraucht würden. "In der IS-Propaganda stehen Kinder für eine neue Generation von IS-Kämpfern, die als skrupellos und brutal dargestellt werden", sagte der Verfassungsschutzpräsident. Mitunter könnten sie bei ihrer Rückkehr gefährlich sein und als Dschihadisten der zweiten Generation heranwachsen.
Dem widerspricht Mücke, zumindest für Kinder. "Ich glaube nicht, dass Kinder wirklich radikalisiert sind. Sie können zwar eine Ideologie annehmen, aber nicht verinnerlichen, denn es ist etwas Aufgesetztes", sagt der Geschäftsführer des VPN. Mücke sieht die Kinder eher als Opfer. Das Wichtigste sei, dass sie wieder in gesunden Verhältnissen aufwachsen und Verankerungspunkte haben wie die deutsche Familie, die Kindertagesstätte oder die Schule. "Je mehr sie in einem sozialen Umfeld aufwachsen, das nicht ideologisch agiert, desto größer sind die Chancen, dass Kinder das Geschehene ein Stück hinter sich lassen können." Genauso wichtig sei die Zusammenarbeit mit Therapeuten, da die Kinder im Regelfall von den Erlebnissen traumatisiert seien.
Aus Kindern werden Erwachsene
Doch wie geht es mit jenen Kindern weiter, die im Kleinkindalter nach Deutschland zurückgekehrt sind, kaum mehr Erinnerungen an die Zeit beim IS haben, in einem gefestigten Umfeld aufwachsen, spätestens aber im Jugend- oder Erwachsenenalter realisieren, dass ihr Vater eventuell IS-Kämpfer ist? "Das wird für jedes Kind sicher eine Herausforderung sein, wenn es merkt, dass es eine andere Geschichte hat als andere", ist Mücke überzeugt. Die Gefahr für eine spätere Radikalisierung sieht er aber nicht. Stattdessen erwartet er eine kritische Auseinandersetzung mit der Zeit und dem, was die Eltern gemacht haben.
Allerdings nimmt er auch die Gesellschaft in die Verantwortung dafür, wie sich die Kinder entwickeln: "Es ist sicherlich nicht förderlich, wenn wir die Kinder als Potenzial für eine neue radikalisierte Gruppe in die monströse Ecke stellen." Die Kinder könnten schließlich nichts dafür, was mit ihnen passiert sei.