Die "Kalifornisierung" der europäischen Städte
13. Juli 2006Marathonläufe gibt es heutzutage allein in Deutschland über 200. Es vergeht praktisch kaum ein Tag, an dem der Verkehr nicht umgeleitet wird, damit die Straßen kleiner, mittlerer oder großer Städte in Besitz genommen werden, um irgendetwas zu feiern.
Christopher Street Day, Love Parade, Karneval der Kulturen, ohne den Besuch des Papstes und die jüngsten Feiern der Weltmeisterschaft zu vergessen – die europäische Stadt wurde zu einer Bühne für Veranstaltungen von begrenzter Dauer.
Die Ersetzung des Flaneurs durch den Passanten, die Inszenierung von Festivals und sportlichen Großveranstaltungen – ein Phänomen, das schon einen Namen hat: Die Kalifornisierung der europäischen Städte.
Urban Bodies
In seinem Text Urban Bodies – Ein Problemaufriss von 2002 erläutert Claus Dreyer, Architekturprofessor in Detmold, das Verhältnis von menschlichem Körper zu Stadt und Architektur. Laut Dreyer lässt sich der "Lebensrhythmus" einer Epoche sowohl an den Bewegungen und Gesten der Menschen, als auch an den Gliederungen und Zuordnungen der Elemente in den Städten ablesen.
Der von Charles Baudelaire verewigte Flaneur, ein Bourgeois, der langsam und sorglos spazieren ging, wurde vom deutschen Philosophen Walter Benjamin zum Prototyp des städtischen Körpers am Beginn des 20. Jahrhunderts ernannt. Ihm korrespondieren städtebaulich die Passagen und Boulevards des Paris der Belle Epoque, erklärt Dreyer.
Vom Flaneur zum Passanten
Der Passant, verewigt von Schriftsteller Botho Strauss in Paare, Passanten (1981), hat den Flaneur Anfang des 21. Jahrhunderts ersetzt. "Er durchquert eilig, desorientiert und gleichgültig Foyers, Unterführungen und Einkaufszonen, die mit ihren immer gleichen Möblierungen und Inszenierungen keinen Anlass zum Verweilen und Kommunizieren geben", schreibt Architekturprofessor Dreyer.
Diesem Desinteresse an den städtischen "Körper" steht ein zunehmender neuer Körperkult in den Städten gegenüber, der sich in speziellen Events wie der Love Parade, dem Christopher Street Day oder dem Karneval der Kulturen darstellt. Dieser Kult führt zu einer eigenartigen "Unwirklichkeit der Städte". Sie werden zu einer Bühne für räumliche und leibliche Inszenierungen von begrenzter Dauer und flüchtiger Realität gemacht, meint Dreyer in seinem Text.
In diesem Zusammenhang wird von einer "Kalifornisierung" der europäischen Städte gesprochen, die sich in der Inszenierung von sportlichen Großveranstaltungen ("Stadtmarathon") ebenso zeigt wie in den zahlreichen Festivals, Perfomances und Shows, mit denen der Stadtkörper belebt werden soll", stellt Dreyer fest.
Es könnte sein, fügt Dreyer hinzu, dass die "Kalifornisierung" der europäischen Städte ein letztes Aufbegehren gegen die schleichende "Entkörperung" sei, die, wie zum Beispiel im Film Matrix dargestellt, mit der zunehmenden Digitalisierung und Virtualisierung der Städte verbunden ist.
Neue Religiosität? Neuer Patriotismus?
Untersuchungen wie die des Professors aus Detmold können uns bei Fragen helfen, die Experten und Medien beschäftigen, wenn religiöse, sportliche oder andere Veranstaltungen hunderttausende von Europäer auf die Straßen bringen. Wie etwa beim Deutschland-Besuch des Papstes 2005 oder bei der WM 2006.
Prompt war von "neuer Religiosität" und kürzlich von "neuem Patriotismus" die Rede - doch man könnte glauben, dass die tausenden von Jungendlichen die damals "Benedikt, Benedikt" riefen, dieselben sind, die neulich ihre Fahnen schwenkten und "Deutschland, Deutschland" riefen.
Dreyer ist nicht der einzige, unter den Philosophen und Kulturwissenschaftlern, der die Gefahr sieht, dass sich das Fest von inkarnierter Metapher des gemeinsamen Lebens zum Verhängnis entwickelt.
Die Red Hot Chili Peppers kritisierten urbane Oberflächlichkeit und Zivilisationszerfall 1999 mit ihrem Album "Californication." So dachte auch der Berliner Philosoph Dietmar Kamper, der schon 1976 schrieb: "Ehe eine Gesellschaft erneut 'Spiele' verlangt wird sie unwirklich und abstrakt und beschleunigt ihre Selbstauflösung".