Die Grünen als neue Volkspartei?
13. Oktober 2018Mit den ersten grünen Abgeordneten hielten 1983 auch Strickpullover und Sandalen Einzug in den Bundestag - damals ein Schock für das politische System der Bundesrepublik. 35 Jahre später haben sich die Grünen gewandelt: Die Pullis sind schicken Anzügen und Kostümen gewichen, der Ökoradikalismus hat einer Realpolitik Platz gemacht, der sich auf digitale Innovation und sozialen Zusammenhalt konzentriert. Heute sehen manche Umfragen die Grünen bundesweit an zweiter Stelle, in Bayern kurz vor der Landtagswahl sogar mit Abstand.
Auch wenn manche Beobachter die Grünen schon als neue Volkspartei sehen, zeigt ihr Aufstieg doch vor allem die neue Fragmentierung des Parteiensystems, die kleinere Parteien auf Kosten der einstigen Schwergewichte begünstigt. Das kommt neben den Grünen auch der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland zugute. "Es gibt viele gemeinsame Gründe, warum die Grünen und die AfD so stark sind. Beiden nützt, dass die anderen Parteien so unbeliebt sind", sagt Olaf Böhnke von der Brüsseler Denkfabrik Rasmussen Global der Deutschen Welle. "Man kann schwer voraussagen, wie stark diese beiden Parteien noch werden, aber das politische Spektrum wird künftig in jedem Fall größer sein, als es die heutigen Volksparteien abbilden."
Abschied vom Radikalismus
Der steile Aufstieg der Grünen in den Umfragen in nur einem Jahr nach der Bundestagswahl ist umso erstaunlicher, als viele die Partei nach einer Reihe von Fehlschlägen schon abgeschrieben hatten. Während ihrer bisher einzigen Zeit als Teil einer Bundesregierung zwischen 1998 und 2005 räumten die Grünen ihre bis dahin strikt pazifistische Position und stimmten 1999 auf dem Höhepunkt des Jugoslawien-Krieges NATO-Luftangriffen auf Serbien zu. Das ärgerte viele ihrer Stammwähler. Später nahm Angela Merkel ihnen eines ihrer wichtigsten Themen weg, als die CDU-Kanzlerin nach der Fukushima-Katastrophe 2011 beschloss, aus der Kernkraft auszusteigen.
Auf der Suche nach einem Alleinstellungsmerkmal und um die eigene Basis zufriedenzustellen schlugen die Grünen 2013 einen Veggie-Day vor - politisch ein Desaster. Es hagelte Kritik, die Grünen sei eine Verbotspartei, die ein ganzes Volk erziehen wolle. Entsprechend schmierte die Partei bei der Bundestagswahl 2017 ab: Mit 8,9 Prozent wurden sie die kleinste der Parteien, die es ins Parlament schafften - schwächer als AfD, FDP und Linke.
Doch seitdem hat sich ihre Zustimmung auf 18 Prozent glatt verdoppelt. Damit sind die Grünen in manchen Umfragen sogar an den einst mächtigen Sozialdemokraten vorbeigezogen, die zusammen mit der Union aus CDU und CSU in Berlin regieren.
Nicht nur Minderheitspolitik
Grund für die Traumwerte ist auch die Kurskorrektur unter den neuen Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck. Sie haben das grüne Parteiprogramm erweitert und setzen zum Teil auf Positionen, die früher mit grünen Positionen unvereinbar schienen, aber insgesamt mehrheitsfähig sind. So sind nach einer Reihe von Terroranschlägen und Anschlagsversuchen auch die Grünen inzwischen für mehr und eine besser ausgerüstete Polizei.
Der Grüne Winfried Kretschmann hatte mit einer solchen pragmatischen und gemäßigten, aber doch als grün erkennbaren Politik die Wahlen im traditionell konservativen Baden-Württemberg gewonnen und regiert seitdem in Stuttgart als Ministerpräsident zusammen mit der CDU als Juniorpartner.
"Wir denken nicht nur an Lösungen, die für fünf oder sechs oder acht Prozent wichtig sind, sozusagen die Minderheitspolitik, die wir früher gemacht haben, sondern wir stellen unsere Themen und die Lösungen so breit auf, dass viele Menschen was davon haben", sagt Priska Hinz, grüne Umweltministerin von Hessen, im Gespräch mit DW.
Doch mindestens ebenso wichtig für den jüngsten Erfolg der Grünen wie eine neue politische Ausrichtung dürfte der Niedergang von CDU/CSU und SPD sein. Viele sind der Kanzlerin, die jetzt zum vierten Mal regiert, schlicht überdrüssig. Und die mit ihr regierende SPD hat nach verbreiteter Meinung ihren inneren Kompass als Partei der kleinen Leute verloren. Vor 20 Jahren erreichte die SPD bei Bundestagswahlen 40 Prozent. Heute steht sie in manchen Umfragen bei 16. "Sie haben das Vertrauen verloren, dass sie das Land regieren können", sagt Olaf Böhnke von Rasmussen Global. "Sie sind immer noch im politischen Niemandsland."
"Volksparteien gibt es nicht mehr"
Geht man nach den Umfragen, scheinen die Grünen die Partei zu sein, die derzeit am meisten vom Niedergang der Volksparteien profitieren. Nach einer Befragung von Forsa hat die Hälfte der heutigen Grünen -Anhänger bei der Bundestagswahl 2017 entweder CDU/CSU oder SPD gewählt.
Das bedeutet aber nicht, dass die Grünen auf dem Weg zur Volkspartei wären, glaubt der Berliner Politikwissenschaftler Gero Neugebauer im Gespräch mit der Deutschen Welle: Von Volksparteien könne man gar nicht mehr sprechen, "denn es gibt sie nicht mehr". Stattdessen werde der Erfolg der Grünen in der gegenwärtigen politischen Lage sie zum naheliegenden Koalitionspartner der müden früheren Volksparteien machen - außerdem würden die Grünen gebraucht, um sie gegen eine ähnlich erfolgreiche AfD in Stellung zu bringen. Die Fragmentierung nehme zu und ebenso die Segmentierung. "Wir haben momentan kleine Gewinner, und dazu gehören in erster Stelle die Grünen, aber auch die AfD."