Die große Feier zur Einheit
3. Oktober 2010Als die Nacht über dem Berliner Reichstag von einem gigantischen Feuerwerk erleuchtet wird, stehen vielen Menschen Tränen in den Augen. Sie sind Zeugen eines historischen Prozesses, den weder die Deutschen, noch die Menschen in den anderen europäischen Ländern für möglich gehalten hätten. In einer friedlichen Revolution hatten die Bürger der DDR die sozialistische Staatsordnung gestürzt und die Regierenden aus den Ämtern gejagt. Dabei hatte sich nicht ein einziger Schuss gelöst, es war keine Gewalt angewendet worden und niemand war zu Schaden gekommen. An diesem 3. Oktober 1990 tritt die DDR der Bundesrepublik bei - die Deutschen leben wieder in einem Staat zusammen.
Bundespräsident Richard von Weizsäcker macht auch in dieser Nacht den Zusammenhang der deutschen Einheit und der Einheit des europäischen Kontinents deutlich: "Wir Deutsche sind uns unserer Verantwortung bewusst und wollen in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen," sagt er, kurz bevor das Feuerwerk beginnt.
Geschlafen wurde nicht
Der damalige Chef des Bundeskanzleramtes, Rudolf Seiters, hat aufregende Wochen hinter sich. Als Vertrauter von Bundeskanzler Helmut Kohl war bei vielen Ereignissen der vergangenen zwölf Monate dabei. In der Nacht vor der Vereinigungsfeier übernachtet er im Bundeshaus in Berlin - dem damaligen Sitz des "Bevollmächtigen der Bundesregierung in Berlin". An Schlaf ist nicht zu denken: "Ich dachte an meine Verhandlungen um die Ausreisefreiheit für die Botschaftsflüchtlinge, an die Szene mit Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag, an meine Ansprache im Deutschen Bundestag beim Fall der Mauer - Helmut Kohl war in Warschau - und dann an die unglaublich wichtige Rede von Helmut Kohl vor der Frauenkirche in Dresden."
329 aufregende Tage
Seit dem Fall der Berliner Mauer sind an diesem 3. Oktober 1990 gerade einmal 329 Tage vergangen. Für die Politiker der beiden deutschen Staaten waren es Tage komplizierter Verhandlungen und weitreichender Entscheidungen. Vor allem in der DDR ist nichts beim Alten geblieben. Aus dem sozialistischen Einheitsstaat haben die im März 1990 gewählten Abgeordneten der Volkskammer ein föderales, staatliches Gebilde geformt, dessen neu gegründete Bundesländer sich mit denen der Bundesrepublik nun zu einem Staat vereinen konnten. Zudem waren der staatliche Überwachungsapparat aufgelöst und die D-Mark eingeführt worden. Aber die Eile, die die Bundesregierung an den Tag legte, war begründet. Europa war seit den Reformbewegungen in Osteuropa in Aufruhr, überall forderten die Menschen Reisefreiheit und eine Veränderung des politischen Systems.
Ausgelöst durch die Parole "Glasnost und Perestroika" ("Transparenz und Umgestaltung"), die von der Sowjetunion schnelle Verbreitung gefunden hatte, war es in allen Staaten Osteuropas zu starken Protestbewegungen gekommen. Rudolf Seiters erinnert sich: "Es ging damals um eine sehr behutsame Steuerung eines Prozesses, der ja nicht nur in Moskau, sondern auch in den westeuropäischen Ländern durchaus Besorgnisse und Ängste ausgelöst hatte."
Das Fenster zur Einheit
Der deutsche Vereinigungswunsch stieß in einigen europäischen Hauptstädten auf Skepsis. Es hatte sich die Sorge vor einem zu starken Deutschland in der Mitte des Kontinents ausgebreitet. Die britische Premierministerin Margaret Thatcher machte offen Front gegen die Wiedervereinigung, der französische Staatspräsident François Mitterrand war ebenfalls kein Freund eines geeinten Deutschland.
Auch in der Sowjetunion war die Entwicklung in Europa auf Widerstand gestoßen. Denn die einstige Weltmacht verlor mehr und mehr an Einfluss auf jene Staaten, die im Warschauer Pakt organisiert waren und das Gegengewicht zu NATO und kapitalistischer Gesellschaftsordnung darstellten. Im Westen fürchtete man einen Putsch gegen Generalsekretär Michail Gorbatschow, durch den die Zustimmung der Sowjetunion zur deutschen Einheit infrage gestellt werden könnte.
Deutsche Einheit im Fokus der Weltpolitik
Die Deutschen hatten das Glück auf ihrer Seite. Denn dieser später als "Fenster zur Einheit" bezeichnete Zeitabschnitt bestand nur im Jahr 1990. Kein anderes Ereignis der Weltpolitik lenkte die Aufmerksamkeit von dem Prozess der deutschen Einheit ab. Wenig später schon wäre das anders gewesen, denn dann richtete sich das Augenmerk der Weltpolitik auf den Irak, der Anfang August 1990 den Nachbarstaat Kuwait überfallen und sich das Land als neue Provinz einverleibt hatte. Mitte 1991 hielt die Welt erneut den Atem an, denn in Moskau nahmen einige Generäle und Teile der Roten Armee an einem Putschversuch gegen Gorbatschow teil. Hätten diese Ereignisse schon ein Jahr früher stattgefunden, wäre der Prozess der deutschen Einheit komplizierter und wohl auch langwieriger geworden. So aber stand die Entwicklung in Deutschland alleine im Fokus der internationalen Politik.
Gesamtdeutscher Bundestag
Die Reste des Feuerwerks sind noch nicht ganz beseitigt, da treten die Abgeordneten des Bundestags und der DDR-Volkskammer zu einer gemeinsamen Sitzung zusammen. Zwei Monate später findet die erste gesamtdeutsche Parlamentswahl seit 1932 statt. Eindeutiger Wahlsieger ist die christlich-liberale Regierungskoalition mit Helmut Kohl an der Spitze.
Autor: Matthias von Hellfeld
Redaktion: Dеnnis Stutе