Die "Flüchtlingslawine" in unseren Köpfen
20. Juni 2018DW: Herr Niehr, was machen Begriffe wie "Flüchtlingskrise" oder "Asyltourismus" mit uns?
Thomas Niehr: Sprache und Denken hängen eng zusammen und insofern bestimmen die Begriffe, die wir benutzen, auch unser Denken. In der Debatte rund um die Flüchtlinge sieht man das sehr deutlich. Spreche ich etwa von "Flüchtlingskrise", impliziert das, es handle sich um eine bedrohliche Entwicklung. Vielen Menschen ist das wohl nicht so klar, aber indem sie das Wort benutzen, machen sie diese Behauptung. "Asyltourismus" oder "Anti-Abschiebe-Industrie" sind da noch deutlichere Beispiele. Diese Kampfbegriffe verfestigen sich als Bilder im Kopf, wenn wir sie wiederholen - auch wenn es nur als Zitat oder im Modus der Empörung ist.
Auffällig beim Thema Flüchtlinge ist auch der Gebrauch von Metaphern aus dem Bereich der Naturgewalten, etwa "Flüchtlingswelle", "-strom" oder "-lawine". Warum wird häufig auf solche Bilder zurückgegriffen?
Es gibt eine Theorie in der Sprachwissenschaft, laut der unser gesamtes Denken metaphorisch funktioniert. Insofern ist das zunächst einmal nichts Besonderes. Man muss sich jedoch auch wieder vor Augen führen, dass die Metaphern hier nicht beliebig sind. Wenn ich von "Flut" oder "Lawine" rede, steckt darin, dass es eine Bedrohung gibt. Und ich muss nur ein bisschen weiterdenken, um mir klarzumachen, dass ich mich präventiv dagegen schützen muss. Dazu kommt, dass Flüchtlinge bei einer solchen Wortwahl nur noch als Masse und nicht mehr als Individuen gesehen werden, das Einzelschicksal wird ausgeblendet.
Derartige Begriffe werden nicht nur gezielt von Rechtspopulisten benutzt, sondern oftmals relativ unkritisch von anderen Politikern, Bürgern oder auch den Medien übernommen. Müssen wir alle genauer auf unsere Wortwahl achten?
Wir als demokratische Zivilgesellschaft sollten uns immer wieder bewusst machen, wie wir über menschliche Schicksale sprechen, und uns fragen, was für uns ein anständiger Umgang mit Sprache ist. Eine besondere Rolle kommt hier den Bildungsinstitutionen und Medien zu. Aber es hat sich auch schon Einiges getan. Als der damalige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble zum Beispiel 2015 in Bezug auf Flüchtlinge von einer "Lawine" sprach, fand ich es schön zu sehen, dass kritisch darüber berichtet wurde. Eine solche Sensibilität für den Sprachgebrauch war meiner Meinung nach vor einigen Jahrzehnten noch nicht vorhanden.
Manchen ist diese Sensibilität oder auch Political Correctness ja sogar schon zuviel...
Das Wettern gegen angeblich zuviel Political Correctness kommt meist von der rechten Seite, welche behauptet, bestimmte Dinge gar nicht mehr sagen zu dürfen. Ich kann jedoch nicht erkennen, dass es derartige Tabus im öffentlichen Diskurs gibt. Dennoch sind an einigen Stellen durchaus Übertreibungen zu beobachten. Beispielsweise wird diskutiert, ob es besser ist, "Geflüchteter" anstatt "Flüchtling" zu sagen. Die Begründung, die Endung "-ling" sei an sich schon abwertend, halte ich als Linguist für abstrus. Mein Appell ist, sich anzuschauen, wie der tatsächliche Sprachgebrauch aussieht, anstatt solche abstrakten Debatten zu führen. Wenn ich erkennen würde, dass "Flüchtling" nur noch abwertend gebraucht wird, fände ich es plausibel zu überlegen, welche anderen Ausdrücke es noch gibt.
Was kann man einer allzu subjektiven, negative Assoziationen hervorrufenden Sprache entgegensetzen?
Anstatt des Wortes "Flüchtlingswelle" ist zum Beispiel "Flüchtlingsbewegung" denkbar, damit übernehme ich zumindest nicht unbedacht eine problematische Metaphorik. Über eines muss man sich jedoch im Klaren sein: Einen hundertprozentig objektiven Sprachgebrauch kann es - ähnlich wie auch einen objektiven Journalismus - nicht geben. Wir haben alle immer bestimmte Sichtweisen auf Dinge und das spiegelt sich in unserer Sprache wider. Was nicht heißt, dass wir nicht als Ideal danach streben können.
Thomas Niehr ist Professor am Institut für Sprach- und Kommunikationswissenschaft der RWTH Aachen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem Sprache in der Politik, Diskursanalyse und Sprachkritik.
Das Interview führte Ines Eisele.