Die Deutschen und ihre Bücher
Warum sind die Deutschen so konservativ, wenn es um Bücher geht? Nancy Isenson, eine Amerikanerin, die in Deutschland lebt, erzählt von ihrem ersten deutschen Buch - und warum den Deutschen ihre Wälzer so wichtig sind.
Bücher als Politikum
Das Land der Dichter und Denker – dieses Mantra tragen die Deutschen mit einer Mischung aus Selbstbeweihräucherung und Spott vor sich her. Das Verhältnis der Deutschen zu ihren Büchern offenbart einen tiefsitzenden Skeptizismus gepaart mit einem kritischen Blick auf Veränderung. Trotzdem bin ich fasziniert von diesem Land, in dem das Kaufen von Büchern ein Akt der Solidarität und Politik ist.
Mein erstes deutsches Buch
Ich bin mit dem Duden aufgewachsen. In Text und Bild erklärt er bis ins Detail die Welt: Atom und Schmuck, Brauereien und Kriegsschiffe, Geometrie und Pilze. Mein Vater erwarb das Buch 1961 in München und hörte nicht auf, es als Beispiel des deutschen Genies zu preisen. Ich war so beeindruckt, dass ich in der Schule ein Referat über das Buch gehalten habe. Lesen konnte ich es erst viel später.
Der Schulterschluss der Bibliothekare
Ich wuchs auf in dem Bewusstsein, dass Büchereien würdevolle Orte sind, in denen sich Menschen aller Altersklassen treffen. Als ich 1990 nach Berlin kam, wurde ich eines Besseren belehrt: Die Bibliotheken waren heruntergekommen, die Bücher abgenutzt und veraltet. Natürlich schloss ich mich dem Protest der Bibliothekare an, als die Stadt dafür auch noch Gebühren verlangte.
Kein Eintritt
Nur eine Bibliothek war nicht verwahrlost: die Berliner Staatsbibliothek. Der ruhige Lesesaal der "Staabi" zog mich direkt magnetisch an. Aber etwas hat mich dann doch schockiert: Besucher durften nicht in den Regalen stöbern. Um ein Buch auszuleihen, musste man ein Formular ausfüllen, und ein Bibliothekar brachte es dann. Man musste also schon vorher wissen, was man wollte.
Bücher hinter der Mauer
Ich habe in der Ost-Berliner Stadtbibliothek gearbeitet, als sie mit der West-Berliner AGB Bibliothek zusammengelegt wurde. Meine Chefin, Frau Reiss, war eine reservierte, ältere Dame mit einem Pagenschnitt, deren Leben 1961 auf den Kopf gestellt worden war. Als sie aus dem Bulgarien-Urlaub zurückkehrte, teilte eine Mauer die Stadt. Ihren Bruder in West-Berlin sah sie lange Zeit nicht wieder.
"Giftschrank"
Schon als Kind half Frau Reiss in einer Bibliothek in ihrer Heimatstadt in Thüringen aus. Durch die Mauer von der Außenwelt abgeschnitten, fand sie Zuflucht in Büchern. Als Bibliothekarin hatte sie auch Zugriff zum "Giftschrank", in dem die Bücher standen, die in der DDR verboten waren. Das Ehepaar Reiss verkroch sich hinter Büchern, bis die Berliner Mauer fiel.
Verwandtschaften in Fraktur
"Die Wahlverwandtschaften" von Goethe war das erste Buch, das ich in Fraktur gelesen habe. Meine deutschen Freunde waren nicht sehr beeindruckt: Fraktur-Schrift war für sie nichts Außergewöhnliches. Der Roman wurde zu einem meiner Lieblingsbücher. Er hat mir dabei geholfen, mich als Teil der deutschen Gesellschaft zu fühlen. Es schien mir, als ob jeder hier seinen Goethe gelesen und geliebt hätte.
Büchertempel
Die Eröffnung des KulturKaufhauses Dussmann 1997 in Berlin war für mich und meine deutschen Freunde ein Schlüsselerlebnis. Es war der reinste Büchertempel - und der erste Buchladen in der Stadt, in dem es gemütliche Sessel gab, in denen man stundenlang schmökern konnte. Dussmann hatte auch viel länger auf als die anderen Geschäfte. Wir wussten damals nicht, dass das Konzept aus Amerika stammt.
David gegen Goliath
Ich wohne heute auf dem Dorf, 15 Minuten vom nächsten Buchladen entfernt. Die Besitzerin sieht ihren Laden als eine der letzten Bastionen gegen die Macht der Großunternehmen und den Verfall der Stadtzentren. Der größte Konkurrent ist der Internetversandhandel Amazon. In einem Buchladen einzukaufen, ist in Deutschland ein Statement gegen den US-Giganten.
Mit der Vergangenheit verbunden
Die Buchhändlerin ist stolz darauf, altmodisch zu sein. Sie hat keinen Online-Shop und verkauft auch keine E-Books. Sie benutzt zwar das Internet, aber sie traut ihm nicht. Das ist in Deutschland nicht nur für Buchhändler typisch. Zwei Diktaturen haben die Deutschen sehr empfindlich gemacht, wenn es um Privatsphäre und Datenschutz geht. Hier kann man noch anonym einkaufen, wenn man bar bezahlt.