Die Deutschen im Anti-Atom-Fieber
15. März 2011Das Entsetzen über das schwere Atomunglück in Japan sitzt tief. Die deutschen Atomkraftgegner schreien auf und reagieren mit bundesweiten Protestaktionen. Auch am Dienstag (15.03.2011) versammelten sich wieder mehrere hundert Demonstranten vor dem Kanzleramt in Berlin und machten ihrem Ärger über die Atompolitik der Bundesregierung Luft.
Einen Tag zuvor waren zehntausende Menschen mit Transparenten und Protest-Schildern auf die Straßen gegangen. Nach Angaben der Anti-Atom-Initiative "ausgestrahlt" nahmen rund 110.000 Menschen an den Demonstrationen und Mahnwachen in 450 Städten teil. Zu den Aktionen unter dem Motto "Fukushima ist überall – Atomausstieg jetzt!" hatten die AKW-Gegner des Vereins "ausgestrahlt", der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) sowie Kirchen, Gewerkschaften und andere gesellschaftliche Gruppen aufgerufen.
Auftrieb für die Anti-Atom-Bewegung
In Berlin zogen am Montag Atomkraftgegner vor das Kanzleramt, darunter auch die gesamte Führung der drei Oppositionsparteien SPD, Grüne und Linke. Im Bundesland Nordrhein-Westfalen machten die Atomkraftgegner in 50 Orten mobil. "Atomkraftwerke sind tickende Zeitbomben" skandierten hunderte Menschen in Düsseldorf. Auch vor der Zentrale des Energieversorgers RWE in Essen und vor der einzigen Uranfabrik Deutschlands im westfälischen Gronau versammelten sich Demonstranten. "Auch NRW ist mit der Urananreicherungsanlage in Gronau und dem Brennelemente-Zwischenlager Ahaus ein wichtiger Atomstandort", sagte der Landesvorsitzende des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND), Paul Kröfges.
Die Anti-AKW-Initiative "ausgestrahlt" sieht in den Mahnwachen einen Erfolg für die Atomgegner. "Noch nie in der Geschichte der Anti-AKW-Bewegung haben an so kurzfristig angesetzten Demonstrationen so viele Menschen teilgenommen", sagte Jochen Stay, ein Sprecher von "ausgestrahlt". Zuvor hatten Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Außenminister Guido Westerwelle (FDP) angekündigt, die erst im Herbst beschlossenen längeren Atomlaufzeiten für drei Monate auszusetzen. Atomkraftgegnern reicht dieser Schritt nicht aus. In Deutschland stehen 17 Atomkraftwerke an zwölf Standorten. Sie werden von den Energiekonzernen E.ON, RWE, EnBW und Vattenfall betrieben. Der massive Zulauf zu den Protesten zeige, dass Kanzlerin Merkel mit ihrer Moratoriums-Strategie bei der Bevölkerung nicht ankomme, so Stay.
Fällt auch Frankreich vom Atom-Glauben ab?
Auch in Frankreich, Atomland Nummer 1, hat das Unglück in Japan die Menschen aufgerüttelt. Am Montagmorgen brach die Webseite der Atomkritiker von "sortir du nucléaire" zusammen, weil mehr als 30.000 Nutzer auf die Homepage zugriffen. Das waren etwa zehn Mal mehr Zugriffe als noch vor der Atomkatastrophe in Japan.
Atomgegner glauben nun an eine Zeitenwende in Frankreich, wo die Atomkraft bislang nur wenig diskutiert wurde. "Die Franzosen wachen endlich auf", sagte Monique Labarthe aus dem Vorstand der Anti-Atom-Dachorganisation "sortir du nucléaire". Der deutsch-französische Politiker Daniel-Cohn-Bendit forderte gar eine Volksabstimmung über die AKWs. "Muss erst eine Katastrophe in Europa passieren, damit wir reagieren?", fragte Cohn-Bendit. Das Volk müsse nun selbst entscheiden können, ob und wie das Land aus der Atomkraft aussteigen könne.
Doch vom Atomausstieg ist Paris noch weit entfernt. Frankreich ist weltweit Atomland Nummer 1, in keinem anderen Staat laufen so viele Atomkraftwerke bezogen auf die Bevölkerung. 59 Reaktoren sind an den großen Flüssen verteilt. Franzosen sind an den Anblick von Atommeilern und an Castor-Transporte gewöhnt. Von der großen Akzeptanz hatten bislang auch deutsche Energiekonzerne profitiert. So baut etwa Siemens gemeinsam mit der EDF-Tochter Areva derzeit an einem Reaktor im nordfranzösischen Flamanville.
25 Jahre nach Tschernobyl
Die Mahnwachen sollten der Auftakt für zahlreiche Kundgebungen in den kommenden Wochen sein. Dann sind mehrere Großdemonstrationen geplant, denn am 26. April jährt sich das Reaktorunglück von Tschernobyl zum 25. Mal. Im Kernkraftwerk Tschernobyl an der ungarisch-weißrussischen Grenze kam es 1986 zu einer Kernschmelze und Explosion. Große Mengen an radioaktivem Material wurden in die Luft geschleudert, eine nicht genau bekannte Zahl von Menschen kam ums Leben. Der Unfall gilt als die bisher schwerste nukleare Katastrophe.
Autorin: Julia Hahn (mit epd, afp, dpa, dapd)
Redaktion: Annamaria Sigrist