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Deutschlands verwahrloste Kinder

Anna Peters26. August 2013

Die deutschen Jugendämter holen von Jahr zu Jahr mehr vernachlässigte oder misshandelte Kinder aus ihren Familien. Das hat mehrere Gründe - einer ist die Überforderung vieler Eltern.

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Ein Kind hält sich die Hände über dem Kopf
Bild: Fotolia/pegbes

Grausame Fälle von Kindstötung und -verwahrlosung sorgen in Deutschland immer wieder für Schlagzeilen. Leidensgeschichten wie die des Pflegekinds Anna, das in der Badewanne ertrank, oder von Kevin, dessen Leiche im Kühlschrank seines Stiefvaters gefunden wurde, haben Schlagzeilen gemacht. Und Fälle wie diese werfen die Frage auf, warum so etwas in Deutschland immer wieder passiert.

Wolfgang Oelsner ist Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche in Köln. Keine bessere Auflösung vorhanden. Foto: privat
Wolfgang Oelsner : "Wir haben heute kein soziales Auffangnetz mehr durch Großfamilien"Bild: privat

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes wurden im vergangenen Jahr mit 40.200 Minderjährigen so viele wie noch nie von Jugendämtern aus den Familien genommen. Das sind 43 Prozent mehr als noch vor fünf Jahren. Die Ämter nehmen Kinder in Obhut, wenn diese sich in einer akut gefährdenden Situation befinden. In der Regel geschieht dies nur vorübergehend, die Kinder kehren also nach einiger Zeit in ihre Familie zurück.

Familien müssen mehr alleine stemmen

Renate Schäfer-Sikora arbeitet für das Kölner Jugendamt, wo die Zahl der Inobhutnahmen ähnlich stark gestiegen ist wie in der gesamten Bundesrepublik. Sie ist Sachgebietsleiterin für Grundsatzangelegenheiten und kennt die typischen Situationen, in denen Eltern mit der Erziehung überfordert sind: "Die größte Zahl von Inobhutnahmen haben wir bei sehr jungen Eltern - zum Teil auch bei alleinerziehenden, jungen Eltern - bei Sucht- und Alkoholkranken, zunehmend auch bei psychisch kranken Eltern. Da sehe ich auch wirklich eine Steigerung, weil die psychischen Erkrankungen einfach zunehmen." Ihrer Erfahrung nach entstehen ernsthafte Probleme in Familien oft aus einer sozialen Not heraus.

Und mit dieser sozialen Not stehen heute viel mehr Familien alleine da als noch in der Vergangenheit. "Wir haben heute kein soziales Auffangnetz mehr durch Großfamilien oder durch eine stabile Wertegemeinschaft in der Religion, in der Nachbarschaftshilfe oder in überfamiliären Systemen, die wie stabilisierende Faktoren gewirkt haben", beschreibt der Kölner Kinder- und Jugendpsychotherapeut Wolfgang Oelsner die gesellschaftlichen Veränderungen. "Das darf man alles nicht übersehen. Heute bleibt die Last alleine bei den Familien und die haben dadurch sehr viel zu stemmen." Manchmal zu viel.

Öffentlichkeit zunehmend sensibilisiert für Kindesverwahrlosung

Müssen die Jugendämter also häufiger einschreiten, weil vielen Familien die Hilfe von Verwandten und Nachbarn fehlt? Oder weil es immer mehr Erwachsene gibt, die mit psychischen Leiden zu kämpfen haben? "Aus meiner Sicht würde ich sagen, dass die Zahlen von Kindesverwahrlosung oder Kindesmisshandlung nicht unbedingt zunehmen", sagt die Jugendamtsmitarbeiterin Schäfer-Sikora.

Die Gründe dafür, dass mehr Kinder in Obhut genommen werden, liegen für sie an ganz anderer Stelle: Die Menschen sind aufmerksamer geworden. "Ich denke, dass die Öffentlichkeit sehr viel sensibler geworden ist für das Thema Kindesschutz und sich vielleicht auch weniger scheut, sich beim Jugendamt zu melden und mitzuteilen, dass das Wohl eines Kindes nicht sichergestellt ist." So wenden sich in Köln zunehmend Bürger an das Jugendamt, wenn sie erleben, dass ein Kind in der Nachbarschaft permanent schreit oder "wenn sie das Gefühl haben, dass ein Kleinkind nicht ausreichend versorgt wird oder ungepflegt aussieht", sagt die Jugendamtsmitarbeiterin.

Renate Schäfer-Sikora arbeitet seit 26 Jahren beim Jugendamt Köln. Keine bessere Auflösung vorhanden. Foto: privat
Renate Schäfer-Sikora: "Öffentlichkeit sehr viel sensibler für das Thema Kindesschutz"Bild: privat

Zur Sensibilisierung habe nicht zuletzt auch die Berichterstattung der Medien über Anna, Kevin und andere Fälle von Kindstötung beigetragen. "Ich denke schon, dass die Berichterstattung dazu geführt hat, dass sich die Öffentlichkeit mehr Gedanken über das Thema macht."

Jugendliche sagen, wenn sie Hilfe brauchen

Anders als früher wenden sich heute auch viele von Misshandlung betroffene Kinder und Jugendliche selbst an Vertrauenslehrer oder das Jugendamt. "Früher hat manch armes Kind noch geglaubt, vieles tragen und decken zu müssen, wenn zu Hause der alkoholisierte Vater zum Beispiel die Mutter verprügelt hat", sagt Wolfang Oelsner. Heute seien Jugendliche auch dank einer guten Aufklärung in der Schule bereit zu sagen, dass sie Hilfe benötigten.

"Insofern sollte man so etwas auch aus dem Stigma nehmen, dass nur alles Katastrophe und der Untergang des pädagogischen Abendlandes ist, wenn die Zahl der Inobhutnahmen durch Jugendämter steigt", fasst Oelsner zusammen. "Dahinter könnte auch stehen: Wir wollen nicht, dass es eskaliert und sich ein Fall wie der von Kevin wiederholt."