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Deutschland: Wer war die rechtsextreme "Artgemeinschaft"?

27. September 2023

Die Polizei hat die rassistisch-völkische Gruppe "Artgemeinschaft" verboten. Hinter germanischer Brauchtumspflege verbarg sich ein Denken in der Tradition der Nationalsozialisten.

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Mann mit schwarzem Kapuzenpullover und der Aufschrift "Deutsches Reich" vor einer schwarzweißroten Fahne
Die "Artgemeinschaft" war nach Ansicht der Behörden Schnittstelle für die gesamte rechtsextreme Szene in Deutschland Bild: Christophe Gateau/dpa/picture alliance

Sie nannte sich "Die Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung". Und sie bezeichnete sich selbst als "größte heidnische Gemeinschaft Deutschlands". Die Jahreszählung orientierte sich nicht an Christi Geburt, in ihrer Zeitrechnung schreiben wir das Jahr "3823 n. St." - "nach Stonehenge", dem Steinkreis in England.

Doch es ging bei dem jetzt aufgelösten Verein keineswegs nur um eine schrullige altgermanische Brauchtumspflege wie Sonnenwendfeiern und Julfeste, wie die Gemeinschaft glauben machte. In einem Bericht des Verfassungsschutzes von 2020 wird die Gemeinschaft als "die derzeit größte deutsche neonazistische Vereinigung mit völkischer, rassistischer, antisemitischer sowie antichristlicher Ausprägung" bezeichnet.

Große, aufrecht stehende Steine vor dunklem Himmel mit verschleierter Sonne
Sonnenwende am Steinmonument Stonehenge in Südengland: Daran richtete die "Artgemeinschaft" ihre Zeitrechnung ausBild: Toby Melville/REUTERS

Sie hatte laut dem Innenministerium rund 150 Mitglieder, unterteilt sich in sogenannte "Gefährtschaften", "Gilden" und "Freundeskreise". Die Mitgliederzahl mag überschaubar gewesen sein. Die Sicherheitsbehörden glauben aber, dass die Vereinigung eine wichtige Scharnierfunktion für das gesamte rechtsextreme Milieu in Deutschland hatte und rechte Kaderschmiede war, vor allem für die Jugend.

Möglichst viele Kinder zur Erhaltung der "Art"

Zentral für die "Artgemeinschaft" war das "Familienwerk", das ein separater Verein war und ebenfalls verboten wurde. Laut seiner Satzung sollte es vor allem kinderreiche Familien aus den eigenen Reihen fördern. Die Mitglieder wurden angehalten, möglichst viele Kinder zu bekommen und entsprechend zu indoktrinieren.

Wie der bayerische Verfassungsschutz in seinem jüngsten Jahresbericht schreibt, geht die "Artgemeinschaft" von der "Überlegenheit einer nordisch-germanischen 'Menschenart'" aus, ähnlich wie in der "White-supremacy"-Ideologie in den USA. Um diese vor der Vermischung mit anderen "Menschenarten" zu schützen, legte die Gruppe ihren Anhängern Regeln ähnlich den "Arier"-Vorstellungen der Nationalsozialisten auf. So forderte der Verein die Einhaltung des "Sittengesetzes" der "Ahnen", das eine "gleichgeartete Gattenwahl" als "Gewähr für gleichgeartete Kinder" gebiete.

Verbindungen zu verurteilten Rechtsterroristen

Den Erhalt der eigenen Art sollte man sich keineswegs friedlich denken. "Kampf ist Teil des Lebens" heißt es in dem "Artbekenntnis" der Gruppe, einer Sammlung von Leitsätzen. Der "Kampf" sei "naturnotwendig für alles Werden, Sein und Vergehen".

Ein Polizist und ein Bundeswehrsoldat jeweils in Uniform stehen links und rechts eines Sarges, der von einer Fahne mit Wappen bedeckt ist. Ein Schwarzweißbild des Verstorbenen mit Trauerband steht daneben
Der verurteilte Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (hier Lübckes Bild bei seiner Beisetzung) war zeitweise Mitglied der "Artgemeinschaft"Bild: Swen Pförtner/dpa/picture alliance

Wie militant die Gruppe ihre völkischen Ziele verfolgte und welche Verbindungen es in die gesamte rechtsextreme Szene gab, kann man auch daran sehen, dass der Neonazi Stephan Ernst auf einer Mitgliederliste auftauchte. Er wurde verurteilt wegen des Mordes am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke im Jahr 2019 wegen dessen flüchtlingsfreundlicher Politik. Auch André E., Unterstützer der früheren rechtsterroristischen Organisation Nationalsozialistischer Untergrund, findet sich auf einer Teilnehmerliste eines Treffens zur Sonnenwendfeier.

Organisation war seit 1957 eingetragener Verein

Gegründet worden war die "Artgemeinschaft" 1951 von Wilhelm Kusserow, der schon in der Weimarer Republik, vor der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland, die "Nordische Glaubensgemeinschaft" ins Leben gerufen hatte. Seit 1957 war sie ein "eingetragener Verein" mit Sitz in Berlin.

Mann mit grimmigem Blick spricht in ein Mikrofon
Der frühere Vorsitzende der "Artgemeinschaft", der inzwischen verstorbene Jürgen Rieger, bei einer NPD-Demonstration zum 1. Mai. Er nannte sie einen "Kampfverband"Bild: Christian Ditsch/IMAGO

Von 1989 bis zu seinem Tod 2009 führte der Hamburger Neonazi Jürgen Rieger die "Artgemeinschaft", die er als "Kampfverband" bezeichnete. Zuletzt führte die 43-jährige Sabrina S. aus Bayern den Verein. Vorsitzender des "Familienwerks" war der Neonazi Jens B. aus Sachsen-Anhalt.

Bei der jüngsten Polizeirazzia gegen die Gruppe wurden neben rechtsextremistischen Devotionalien und Literatur auch Schusswaffen, Munition und mehrere Armbrüste beschlagnahmt. 

Christoph Hasselbach
Christoph Hasselbach Autor, Auslandskorrespondent und Kommentator für internationale Politik