Deutschland: Steht die Regierung vor dem Bruch?
4. November 2024Aufgeben, oder retten, was noch zu retten ist? Es sind entscheidende Tage für die Bundesregierung, die Anfang Dezember drei Jahre im Amt sein wird. Gestritten haben SPD, Grüne und FDP schon immer. Zu unterschiedlich sind ihre politischen Grundüberzeugungen. In dem Bündnis stehen sich zwei linke und eine wirtschaftsliberale Partei gegenüber. SPD und Grüne setzen auf einen starken Staat, der auch schuldenfinanzierte Politik macht. Die FDP ist gegenteiliger Ansicht.
Anfängliche Gemeinsamkeiten waren rasch aufgebraucht. Das Geben und Nehmen, das in einer Koalition nötig ist, fällt inzwischen immer schwerer. Auch die Entfremdung ist gewaltig, das nötige Vertrauen nicht mehr vorhanden.
Profilieren auf Kosten der anderen
Eskaliert ist die Lage zuletzt in der Wirtschafts- und Haushaltspolitik. Seit ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vor rund einem Jahr die Regierung in Geldnot brachte, in dem es die Umwidmung von Corona-Mitteln in Klimafonds für nichtig erklärte, gibt es kaum noch Schnittmengen in der Koalition. Jeder versucht sich mit eigenen Vorschlägen zu profilieren. Deutschland steckt in einer Rezession, die Steuereinnahmen sind gesunken, was ein zusätzliches Loch in die ohnehin klamme Staatskasse reißen wird.
Kanzler Olaf Scholz (SPD) veranstaltete einen Industriegipfel mit führenden Unternehmern, lud aber weder den grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck noch FDP-Chef und Bundesfinanzminister Christian Lindner dazu ein. Linder veranstaltete ein eigenes Treffen mit anderen Wirtschaftsvertretern, Habeck reagierte, indem er einen milliardenschweren, schuldenfinanzierten Staatsfonds vorschlug, um Investitionen von Firmen zu fördern.
FDP fordert Richtungswechsel
Für die FDP ist Habecks Vorschlag indiskutabel, denn sie pocht auf die Einhaltung der Schuldenbremse. Doch ein Veto reichte Lindner offenbar nicht aus. In einem mehrseitigen Grundsatzpapier zur Wirtschaftspolitik forderte er ohne vorherige Absprache in der Koalition einen Richtungswechsel in der Regierungspolitik. Das Papier liest sich wie ein wirtschaftspolitisches Wahlkampfprogramm der FDP. Es ist die reine Lehre der Liberalen.
Gefordert werden Entlastungen für die gesamte Breite der Wirtschaft, auch durch einen sofortigen Stopp aller neuen Regulierungen. Für Unternehmen und Top-Verdiener sollen Steuern gesenkt werden. Die Klimaschutzziele sollen aufgeweicht werden, indem nationale durch europäische Ziele ersetzt werden. "Das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 ist ein deutscher Sonderweg, das europäische Ziel bis 2050 ist bereits hochambitioniert für uns als Industrieland", sagte FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai am Montag.
Provoziert Christian Lindner den Rauswurf?
Positionen, die für SPD und Grüne untragbar sind und die dem widersprechen, was die Koalition politisch vereinbart hat. Weswegen bei den Regierungspartnern auch von einer Provokation gesprochen und überlegt wird, ob Lindner es auf einen Rausschmiss aus der Koalition anlegt, um mit Blick auf die nächsten Wahlen politisch überleben zu können.
Die Beliebtheitswerte der Ampel-Koalition könnten schlechter nicht sein. Das hat Auswirkungen auf die Umfragewerte aller drei Parteien, doch für die FDP geht es inzwischen um die Existenz. Wäre jetzt Bundestagswahl, würden die Liberalen so schlecht abschneiden, dass sie nicht mehr im Bundestag vertreten wären. Forderungen von FDP-Mitgliedern und auch Wählern der Partei, die ungeliebte Ampel-Regierung zu verlassen, gibt es schon lange.
Der Kanzler kämpft um Erhalt der Koalition
Doch ohne die FDP hätte die Regierung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Bundestag keine Mehrheit mehr. Was zwar nicht automatisch bedeuten würde, dass es zu Neuwahlen kommt. Denn SPD und Grüne könnten auch als Minderheitsregierung weitermachen und versuchen, sich für ihre Vorhaben wechselnde Mehrheiten im Bundestag zu suchen. Der stärksten Oppositionskraft, der CDU/CSU fehlt es an möglichen Koalitionspartnern, um eine Mehrheit gegen SPD und Grüne auf die Beine zu stellen.
Kanzler Scholz möchte einen Bruch der Ampel aber unbedingt vermeiden. Seit dem Wochenende führt er Krisengespräche im Kanzleramt. Zunächst mit den eigenen Parteispitzen der SPD, anschließend war am Sonntagabend FDP-Chef Lindner geladen. Am Montag gab Regierungssprecher Steffen Hebestreit bekannt, dass in den nächsten Tagen mehrere Dreier-Treffen von Scholz, Habeck und Lindner geplant seien.
"Da passiert gerade Vieles unter Hochdruck", betonte Hebestreit. Ziel sei es, aus den unterschiedlichen Vorschlägen zur Wirtschaftspolitik "ein Gesamtkonzept" zu erarbeiten, das für alle drei Koalitionspartner gangbar sei, sagte der Regierungssprecher.
"Die Regierung wird ihre Aufgaben erledigen", sagte Scholz, als er nachmittags am Rand eines Treffens mit NATO-Generalsekretär Mark Rutte in Berlin von Journalisten gefragt wurde, ob seine Regierung instabil sei. "Ich bin der Kanzler, es geht um Pragmatismus und nicht um Ideologie", so Scholz, der sichtlich angespannt wirkte.
Im Koalitionsausschuss in die Augen schauen
Mit den Gesprächen unter sechs Augen will der Regierungschef vor allem den Koalitionsausschuss am Mittwoch (6.11.) so vorbereiten, dass es möglichst keine Überraschungen geben sollte. Erstmals seit längerer Zeit werden in dem Kreis, der normalerweise Gemeinsamkeiten auslotet und anstehende Pläne abklärt, die Spitzen aller drei Parteien und ihrer Bundestagsfraktionen wieder an einem Tisch sitzen. Was auch bedeutet, dass sich die führenden Personen gegenseitig in die Augen schauen und abklären müssen, was überhaupt noch möglich ist in der Ampel.
Die Zeit drängt, denn im Bundestag soll Ende November der Haushalt 2025 beschlossen werden. Die sogenannte Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses, in der das gesamte Paket finalisiert wird, ist für den 14. November angesetzt. Bis dahin müssen noch Milliardenlücken geschlossen werden.
Linder schlägt in seinem Wirtschaftspapier vor, das Bürgergeld, das Arbeitslose bekommen, zu kürzen. Außerdem will er zehn Milliarden Euro nutzen, die eigentlich als Subvention für den Chipkonzern Intel vorgesehen waren. Der Bau der Fabrik ist auf Eis gelegt.
Die Grünen lenken überraschend ein
SPD-Chefin Saskia Esken will das Geld dort belassen. Es sei "nicht zielführend, die Mittel irgendwo in den Ritzen des Haushalts verschwinden zu lassen".
Der grüne Wirtschaftsminister Habeck will das Geld aber überraschend freigeben und damit der FDP entgegenkommen. Die Mittel könnten "jetzt selbstverständlich einen Beitrag dazu leisten, die Haushaltslücke zu reduzieren", sagte Habeck am späten Montagnachmittag in Berlin und fügte hinzu: "Klar ist, dass man an vielen Stellen einen Beitrag leisten muss und auch ungewöhnliche Schritte gehen muss."
VW, USA, Spanien und die Ukraine
Grüne und SPD hoffen, dass sich die Ampel-Parteien im Koalitionsausschuss irgendwie wieder zusammenraufen können. "Es geht nicht um einen Showdown", so SPD-Chefin Esken. "Wir haben überhaupt gar keine Neigung, die Koalition scheitern zu lassen, wir brauchen eine verantwortungsvolle Regierung." Man werde sehen, ob die Koalitionspartner dazu die Kraft hätten.
Auch die Grünen warnen vor einem Bruch. "VW geht gerade den Bach runter, in den USA wird gewählt, Spanien wird überflutet und in der Ukraine gibt es einen Frontdurchbruch der Russen nach dem anderen", so der grüne Parteichef Omid Nouripour. "Das braucht eine andere Ernsthaftigkeit und die verlangen wir auch innerhalb dieser Koalition."