Deutschland muss sich neu erfinden - nur wie?
27. August 2023Die britische Zeitschrift "The Economist" bezeichnete Deutschland vor fast einem Vierteljahrhundert als "kranken Mann Europas", wegen seiner damaligen Wirtschaftsschwäche und angeblich fehlenden Innovationskraft. Jüngst hat der "Economist" wieder die Frage gestellt, ob Deutschland erneut der "kranke Mann Europas" sei. Carsten Linnemann, Generalsekretär der oppositionellen CDU, sieht Deutschland sogar als "kranken Mann der Welt". Doch woran genau hapert es?
Infrastruktur
Stark befahrene Autobahnbrücken wie die Leverkusener Brücke, die Lastwagen rund zehn Jahre nicht befahren können; ganze Autobahnabschnitte, so auf der A45 durch das Sauerland, die wegen maroder Brücken jahrelang gesperrt sind; Bahnfahrten, die wegen ständiger Ausfälle und Verspätungen zu Odysseen werden: Es steht nicht gut um Deutschlands Infrastruktur. Lange wurden Straßen und Schienen auf Verschleiß gefahren, statt sie ständig zu erneuern und zu pflegen - bis es irgendwann gar nicht mehr geht. Die Folge ist ein gewaltiger Erneuerungsstau.
Das Problem: Während sich Deutschland in den - vergangenen - wirtschaftlichen Boomjahren bei extrem niedrigen Zinsen die vielen Investitionen fast problemlos hätte leisten können, muss jetzt unter weit schwierigeren Bedingungen gebaut werden. Denn die Wirtschaft stagniert, die hohe Inflation lässt auch die Baukosten in die Höhe schießen und die Staatsschulden sind immens. An einer Modernisierung der Infrastruktur führt allerdings kein Weg vorbei. Sie ist Voraussetzung für eine florierende Wirtschaft.
Energieversorgung
Ziel der Bundesregierung ist eine Energieversorgung fast vollständig aus erneuerbaren Energien wie Wind und Sonne. Dazu wird beides seit Jahren massiv ausgebaut. Gaskraftwerke mit Erdgas aus Russland sollten übergangsweise Kohlekraftwerke ablösen und wind- und sonnenarme Perioden ausgleichen. Mit dem Krieg in der Ukraine ist diese Säule ausgefallen. Fieberhaft versucht die Bundesregierung, die Lücke mit Flüssiggas aus anderen Importländern zu füllen. Das ist zwar einigermaßen gelungen, aber zu sehr hohen Kosten.
Bei der Stromversorgung drohen ähnliche Engpässe: Einerseits setzt die Regierung ganz auf Elektromobilität statt Verbrenner und beim Heizen auf elektrische Wärmepumpen statt Gas- und Ölheizungen - beides erhöht den Stromverbrauch. Andererseits hat sie in diesem Frühjahr die drei letzten noch arbeitenden und technisch einwandfreien Kernkraftwerke abgeschaltet. Im Ergebnis ist Energie in Deutschland deutlich teuer als in den Nachbarländern. Die Industrie droht wegen Wettbewerbsnachteilen ins Ausland abzuwandern. Einen subventionierten Industriestrompreis lehnt Bundeskanzler Olaf Scholz bislang als zu teuer ab. Der Ausbau der Erneuerbaren und des Stromnetzes gehen unterdessen weiter, treffen aber auf zunehmenden Widerstand der Bevölkerung.
Fachkräfte
Praktisch alle Branchen in Deutschland klagen über einen Fachkräftemangel. Ob im Friseurhandwerk, im medizinischen und Pflegebereich oder bei Ingenieuren, überall fehlen Leute. Das hat zu einem Gutteil mit dem demographischen Wandel zu tun: Die zahlenmäßig starken Jahrgänge der 1950er und 60er Jahre, die sogenannten Babyboomer, gehen in Rente; die nachfolgenden Jahrgänge sind viel kleiner.
Die Bundesregierung setzt auf drei Wege aus der Misere: Möglichst viele Menschen, vor allem Frauen, die bisher in Teilzeit gearbeitet haben, sollen Vollzeit arbeiten. Um das zu ermöglichen, wird auch die staatliche Kinderbetreuung ausgebaut. Außerdem wird das Renteneintrittsalter schrittweise erhöht: Die Menschen sollen länger arbeiten. Beides ist in den letzten Jahren deutlich vorangekommen. Schließlich sollen ausländische Fachkräfte angeworben werden. Doch viele Hochqualifizierte machen einen Bogen um Deutschland, unter anderem wegen der hohen Steuer- und Abgabenlast, wegen Sprachbarrieren und überbordender Bürokratie.
Bürokratie
Womit schon das nächste Problem angesprochen ist. So gut wie jede Bundesregierung verspricht Bürokratieabbau, will die Verwaltung vereinfachen und unnötige Vorschriften abschaffen - um dann doch an ihrem Anspruch zu scheitern. Mehr noch, es kommen immer neue Vorschriften dazu. Von der amtierenden Regierung etwa im Bereich Klimaschutz. So klagt die Baubranche, dass die energetischen Vorgaben für Gebäude so umfangreich und streng geworden sind, dass sich Bauen oft nicht mehr bezahlen lässt.
Ein weiteres Hindernis für Bürokratieabbau ist ein hoher Gerechtigkeitsanspruch: Die Steuergesetzgebung beispielsweise ist in Deutschland besonders kompliziert, weil die Politik eine möglichst gerechte Besteuerung will, bei der möglichst jeder Fall und jede Besonderheit berücksichtigt wird. Hier liegt ein klassischer Zielkonflikt vor, bei dem man sich entscheiden muss: Entweder ein einfacheres System und kleinere Ungerechtigkeiten aushalten oder eines, das zwar Gerechtigkeit anstrebt, aber im Wirrwarr der Regelungen doch die Begüterten mit den guten Steuerberatern begünstigt.
Digitalisierung
Beim Thema Digitalisierung gilt Deutschland als Entwicklungsland. Der Anteil der Glasfaseranschlüsse beträgt laut der Industrieländerorganisation OECD nur rund acht Prozent. Das ist der viertletzte Platz unter den 38 OECD-Ländern. Zum Vergleich: In Südkorea, Japan oder Spanien liegt die Quote zehnmal so hoch, bei über 80 Prozent. Dabei ist gerade schnelles Internet ein entscheidender Standortfaktor. Privatpersonen und erst recht Unternehmer lassen sich heute in keiner Gegend mehr nieder, die digital abgehängt ist.
Das Problem besteht auch - und hier gibt es Verbindungen zu den Themen Bürokratieabbau und Fachkräftemangel - in der Verwaltung: Für eine Ummeldung bei Umzug oder für die Anmeldung eines Autos muss man in Deutschland oft noch zum Amt - und sich dafür frei nehmen. Anderswo kann man Behördenangelegenheiten online zu erledigen. Das Problem ist erkannt und wird auch angegangen, allerdings im Vergleich zu anderen Ländern mit großer Verspätung.
Vertrauen in Demokratie und Staat
Ein Problem ganz anderer Art ist das schwindende Vertrauen in staatliche Institutionen und die hier gelebte Demokratie. Kürzlich hielten in einer Forsa-Umfrage für den Deutschen Beamtenbund nur noch 27 Prozent der Befragten den Staat für fähig, seine Aufgaben zu erfüllen. Mit 69 Prozent sahen über zweit Drittel der Befragen den Staat als überfordert, zum Beispiel in der Asyl- und Flüchtlingspolitik.
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Untersuchung der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung. Allein in dem halben Jahr zwischen Dezember 2022 und Juni 2023 ist danach die Demokratiezufriedenheit in Deutschland um 14 Prozentpunkte abgesackt, von 52 auf 38 Prozent. Besonders stark war der Rückgang in Westdeutschland sowie unter Anhängern von CDU/CSU und SPD. Das heißt: Gerade in großen Bevölkerungsgruppen, die bisher das politische System getragen haben, ist das Vertrauen stark erschüttert. Zwar nicht in die Demokratie als Staatsform, aber in die, wie sie die Bürger erleben. Ein Alarmsignal für die Politik. Und eine Aufgabe für die kommenden Jahre.