Deutschland - kein Land der Ingenieure mehr?
10. Mai 2023Ob Energie- und Elektrotechnik, Informatik, Maschinen- und Fahrzeugtechnik, Bauingenieurwesen oder Gebäudetechnik - wer in Deutschland einen Job als Ingenieur sucht, der hat eine wachsende Auswahl. Für 100 Bewerber gab es 2021 im vierten Quartal 387 offene Stellen. Ein Jahr später waren es bereits 471. Das ist ein Plus von fast 22 Prozent.
Insgesamt wurden Ende 2022 auf dem Arbeitsmarkt für Ingenieure und Ingenieurinnen in Deutschland 170.300 offene Stellen gezählt. Es fehle an allen Ecken und Enden, der Fachkräftemangel sei prekär, warnt der Branchenverband VDI, der Verein Deutscher Ingenieure. Öffentliche Bauprojekte kämen inzwischen zum Erliegen oder können gar nicht erst gestartet werden, Digitalisierungsprojekte blieben auf der Strecke.
Mehr Rentner, weniger Studenten
Ausgerechnet in Deutschland, jahrzehntelang als Land der Ingenieure gepriesen und weltweit bekannt für sein technisches Know-how? "In Deutschland haben wir in der Vergangenheit tatsächlich von unseren guten menschlichen Ressourcen gelebt, das war unsere Stärke", sagt Diplom-Ingenieur Dieter Westerkamp, der beim VDI den Bereich Technik und Gesellschaft leitet. Doch immer mehr Rentnern stehen immer weniger Studenten gegenüber. "Das Schlimme ist, die Lage wird sich nicht verbessern, denn der demografische Wandel macht sich bemerkbar."
In den ingenieurwissenschaftlichen Kernfächern ist die Zahl der Studienanfänger deutlich rückläufig. Nahmen 2016 bundesweit noch 143.400 junge Menschen ein Studium in den sogenannten MINT-Fächern, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik auf, so waren es 2022 nur noch 125.600. "In den kommenden Jahren ist folglich mit einem deutlichen Rückgang der Absolventenzahlen zu rechnen", sagt der Volkswirt Axel Plünnecke vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln.
Und das bei gleichzeitig steigendem Bedarf an Ingenieuren vor allem im Bereich klimafreundlicher Technologien und Produkte. In einer Umfrage des IW sagten 43 Prozent der Unternehmen, sie würden in Zukunft mehr Ingenieure brauchen und 63 Prozent mehr IT-Experten.
Trübe Aussichten für den Standort Deutschland
Die Industrie habe den Mangel bereits fest im Blick, warnt Dieter Westerkamp. "Aus der Industrie hören wir die Aussage, dass der Fachkräftemangel in Zukunft in Deutschland eine Bedingung ist, an der es gar nicht so viel zu rütteln gibt, sondern der ist schlichtweg da."
Damit entfalle ein wesentliches Argument für den Standort Deutschland. "Wenn man das im Hinterkopf hat und weiß, dass es in anderen Ländern anders ist, dann wird es einfach schwierig, die Industrie davon zu überzeugen, zukünftig hier zu investieren und das wäre fatal. Das können wir uns in Deutschland nicht leisten." Der Wohlstand des Landes stehe auf dem Spiel.
Ausländische Fachkräfte - dringend gesucht
Ohne eine starke Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland sei die Lücke nicht mehr zu schließen, sagt Westerkamp. Zwar ist die Anzahl ausländischer Beschäftigter in Ingenieurberufen von Ende 2012 bis September 2022 um 126,5 Prozent auf rund 105.000 gestiegen. Jeder zehnte Ingenieur stammt bereits aus dem Ausland. Aber das reicht bei weitem nicht aus.
Die Politik hat das erkannt und reformiert derzeit die Zuwanderungsgesetzgebung. "Ja, es gibt eine Fachkräftestrategie der Bundesregierung, in der auch die Zuwanderung ihren Platz hat, das begrüßen wir aus dem VDI heraus sehr, aber wir müssen schlichtweg einfach hier nochmal genau gucken, dass wir die Dinge jetzt auch tatsächlich umsetzen und anpacken müssen. Sonst läuft die Entwicklung in Deutschland in die dramatisch falsche Richtung."
Flaschenhals Verwaltung
Damit sind vor allem die bürokratischen Hürden gemeint, die jeder Unternehmer kennt, der eine Fachkraft aus dem Ausland einstellen will. Westerkamp kennt viele Beispiele, er bekommt sie aus der Industrie immer wieder gespiegelt. "Es dauert sieben Monate, bis eine indische Fachkraft und in diesem Fall ein Ingenieur hier in Deutschland arbeiten darf. Das sind einfach Zeiträume, die können und dürfen wir uns nicht leisten, in der Zeit sind andere Länder vielleicht schneller und werben uns diese Person ab."
Es vergingen allein Wochen, weil Unterlagen von der Ausländerbehörde in Deutschland mit der Post zur Botschaft im Ausland geschickt würden, moniert Volkswirt Plünnecke, der mehr Digitalisierung und mehr Personal in den Behörden fordert. Dann dauere es noch einmal Monate, bis man einen Termin bekomme, um ein Visum in einer Botschaft zu beantragen. Die Verwaltung sei der Engpass in der Fachkräftestrategie. "Man kann es auch so sagen: Sie haben das Auto, das jetzt einmal Zuwanderung sein soll. Sie haben den Motor verbessert, das sind die Zuwanderungsregeln, sie machen Werbung, sie haben also auch mehr Treibstoff im Tank. Aber die Reifen sind noch für Tempo 30 ausgelegt."
Universitäten als Anziehungspunkte
Große Potenziale für Zuwanderung in Ingenieur- und Informatikerberufe böten die deutschen Hochschulen und dort vor allem die Technischen Universitäten. Das zeigt ein Blick auf regionale Verteilung Beschäftigter in Ingenieurberufen. In Landkreisen mit einem TU-Standort arbeiten ohnehin überdurchschnittlich viele Ingenieure. Der Anteil ausländischer Ingenieure erhöhte sich in den letzten zehn Jahren dort aber besonders dynamisch.
Das liegt daran, dass es bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie stetig mehr ausländische Studierende an die technischen Universitäten in Deutschland zog. "Durch Corona ist es schwierig gewesen, aber wir müssen jetzt wieder mehr ausländische Studierende nach Deutschland holen", fordert Westerkamp.
Mentorenprogramm auf Augenhöhe
Ins Land holen, ist das eine, das andere ist, die Ausländer dann auch in Deutschland zu halten. Die Hälfte der ausländischen Uni-Absolventen verlasse Deutschland nach dem Studium direkt wieder "und nimmt ihr hier erworbenes Wissen sozusagen mit". Man müsse sich mehr um die Menschen kümmern, die man mühsam gewonnen habe, fordert Westerkamp.
In Nordrhein-Westfalen arbeitet der VDI an einem Pilotprojekt, bei dem Vereinsmitglieder ausländische Kollegen als Mentoren auf dem Weg in die Arbeitswelt und die Gesellschaft begleiten sollen. Auf Augenhöhe, wie es beim VDI heißt. "Man besucht dann eben gemeinsam Veranstaltungen, mit denen, die jetzt neu nach Deutschland gekommen sind, und das wollen wir wirklich systematisch und gezielt tun."
Willkommenskultur nötig
Zudem seien gezielte Aus- und Weiterbildungspakete in Arbeit, die "Brücken in Zukunftstechnologien hinein bauen sollen". Wichtig sei auch, "internationale Communities" aufbauen, also Netzwerke in Unternehmen und Regionen, über die man dann weitere Zuwanderer in Ingenieurberufen auch leichter gewinnen könne.
Diplom-Ingenieur Westerkamp sieht aber auch die Gesellschaft in der Pflicht. "Da gucke ich jetzt wirklich in die breite Bevölkerung, wir brauchen wirklich eine Fachkräfte-Willkommenskultur. Wir brauchen diese Menschen, sonst werden wir es in Zukunft am Standort Deutschland mit unserer Lebensqualität schwer haben."