Eine kompliziertere Welt
14. Oktober 2009Im Interview: Der Schweizer Journalist Réne Lenzin hat als langjähriger Korrespondent die Schweizer Außenpolitik und ihre Beziehungen zu Deutschland verfolgt und als Berichterstatter begleitet. Er arbeitet heute beim "Tagesanzeiger", der großen linksliberalen Schweizer Tageszeitung.
DW-WORLD.DE: Was kommt Ihnen spontan in den Sinn, wenn Sie an die Ereignisse von vor 20 Jahren denken?
Réne Lenzin: Ich sehe die Bilder von damals noch sehr genau vor meinem geistigen Auge. All die Ostdeutschen, die über Ungarn nach Österreich gingen und dann natürlich die Mauer, die fiel. Dieses Symbol von Trennung und Kaltem Krieg in Europa, das einfach so zusammenbricht.
Wie hat die Schweiz diesen historischen Wandel erlebt?
Für die Schweiz war es nicht ganz einfach, weil man realisieren musste, das die ganze Welt komplizierter wird. Vorher war es einfach: Es gab die Guten und die Bösen und man war zwar neutral, aber auch klar positioniert: ideologisch auf der Seite des Westens.
Nachher musste man sich ganz neu positionieren. Es hat sich gezeigt, dass es für die Schweiz schwieriger wird, weil sie nicht mehr im Schatten des Kalten Krieges mitsegeln konnte, sondern plötzlich im Rampenlicht stand. Da kam dann die Geschichte der jüdischen Vermögen, jetzt kommt die Frage des Bankgeheimnisses - das sind Dinge, die sich nicht so entwickelt hätten, wenn der Kalte Krieg geblieben wäre.
Gibt es neben diesen großen europäischen Themen in Bezug auf Deutschland auch kleine Ärgernisse?
Deutschland ist sicher ein ganz besonderer Fall in unserer Außenpolitik. Es ist unser wichtigster Handelspartner und außerdem haben wir einen langen, gemeinsamen Grenzverlauf, wo es auch immer mal wieder zu Unstimmigkeiten kommt. Die ganzen Zollformalitäten, da spielt Deutschland auch immer mal wieder mit dem Drohfinger, wenn ein Thema nicht vorwärts kommt, das den Deutschen wichtig ist. Dann lässt man durchblicken, dass man auch mal wieder den Zollübergang erschweren könnte. Deutschland ist ein sehr prägender Faktor in der Außenpolitik, aber auch in der Innenpolitik.
Gab es bei den Schweizern auch Angst vor einem wiedervereinigten Deutschland?
Da muss man zwischen den Generationen differenzieren. Vor allem die Kriegsgeneration, also die älteren Leute, hatten natürlich Angst vor einem Großdeutschland, das ihnen negativ in Erinnerung ist. Das muss man verstehen. Versetzen Sie sich einmal in unsere Situation während des Zweiten Weltkrieges: Im Süden standen die Italiener unter Mussolini und im Norden die Deutschen unter Hitler. Wir Schweizer waren also in gewisser Weise eingeschlossen und das hat sicher die Mentalität bis weit über den Krieg hinaus geprägt.
Aber allgemeingesellschaftlich und -politisch hat man in Bezug auf Deutschland einfach zur Kenntnis genommen, dass das Land wieder zusammenwächst. Das ist mit Problemen verbunden, aber Deutschland ist eingebunden in die Europäische Union. Ich glaube nicht, dass irgendjemand in der Schweiz Deutschland im militärischen Sinne heute als Gefahr ansieht, sicher nicht.
Die Schweiz ist seit einigen Jahren das liebste Auswanderungsland der Deutschen. Die höheren Gehälter locken natürlich und die berühmte Schweizer Lebensqualität. Sorgt dieser massive Zuzug für Irritationen?
Da sprechen Sie ein heikles Thema an. Die Personenfreizügigkeitsregeln haben tatsächlich zu einem Zuzug von Deutschen geführt, der vor allem in den Städten der Deutschschweiz spürbar ist. An den Universitäten, in den Krankenhäusern - es sind heute nicht mehr die klassischen Gastarbeiter aus Spanien, Portugal oder vom Balkan, die zu uns kommen und die in den klassischen Tieflohnbranchen gearbeitet haben.
Bei den Deutschen geht es um qualifizierte, sogar hochqualifizierte Leute, die auch unserem Mittelstand die Jobs streitig machen. Gerade in Zeiten wie heute, wo die Arbeitslosigkeit steigt, kann es bei dem einen oder anderen meiner Landsleute schon das Gefühl geben, man werde überrannt vom großen Nachbar.
Kommen also zu viele Deutsche in die Schweiz?
Es geht mehr um die Frage, wie sie sich hier integrieren. Wir hatten kürzlich bei uns in der Redaktion vom "Tagesanzeiger" eine interessante Debatte darüber, wie die Integration von Deutschen denn überhaupt geschehen soll und da waren die Meinungen sehr kontrovers. Nehmen wir beispielsweise die Sprache: Die Schweizer haben da so eine Art Minderwertigkeitskomplex, weil sie spüren, dass sie sich im Hochdeutschen nicht so gewählt und flüssig ausdrücken können wie die Deutschen.
Sollen die deutschen Einwanderer nun also unseren Dialekt lernen? Es ist sicher positiv, wenn sie ihn verstehen, aber wenn ein Deutscher sich bemüht, Dialekt zu sprechen, wird ihm das vermutlich nicht gelingen und dann kann es schnell auch als Überanpassung interpretiert werden. Ich glaube, man sollte gelassen seine Sprache reden und vor allem wir Schweizer müssen mit mehr Gelassenheit zu unseren Schwächen im Hochdeutschen stehen.
Das Interview führte Kirstin Hausen.
Redaktion: Susanne Henn