"Deutschland hat seine Unschuld verloren"
20. Dezember 2016Die Ruine der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ist ein Mahnmal gegen den Krieg und ein Symbol für Versöhnung und Völkerverständigung. Dass am Montag gerade in ihrem Schatten ein Anschlag verübt wurde, ist besonders perfide. Und so verwundert es nicht, dass die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) genau in dieser Kirche zum abendlichen Gedenk- und Trauergottesdienst einlud. "Wir alle sind entsetzt über diese brutale und sinnlose Gewalt. So viele unschuldige Menschen sind ihr zum Opfer gefallen", sagte der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm.
Der katholische Erzbischof vom Bistum Berlin, Heiner Koch, äußerte sich im DW-Gespräch zum mutmaßlichen Anschlag: "Diese Zeit ist für uns gerade auch eine empfindungsstarke Zeit. Eine Zeit, in der wir auf viele Gefühle besonders reagieren, in den Familien zusammenstehen, eine Zeit, in der Friedenssehnsüchte so ganz wach und lebendig erfahrbar werden. Es gibt keinen brutaleren Schnitt, als einen solchen Terroranschlag genau in diese Zeit wenige Tage vor dem Weihnachtsfest zu setzen. Das ist brutal, das ist menschenverachtend."
Koch betonte, dass man Verzweiflung und Trauer auch einfach mal aushalten müsse und ergänzte: "Zweitens müssen wir bei denen stehen, die betroffen sind. Das sind die Familienangehörigen, das sind aber auch die Verletzten, die um ihr Leben ringen, die alle Weihnachten nicht mehr so feiern können, wie sie sich das gedacht haben. Drittens müssen wir uns fragen, wie wir in unserer Gesellschaft zukünftig mit solchen Katastrophen umgehen. Denn ich befürchte schon, dass es hier auch wieder eine Instrumentalisierung dieses Grauens gibt. Nach dem Motto: Wer ist schuld, dem weisen wir das dann zu, und der muss dann die Verantwortung dafür tragen. Da habe ich sehr große Angst."
Bestürzung und Mitleid bei Juden und Muslimen
Auch zahlreiche Muslime bekundeten ihre Betroffenheit und brachten ihren Schmerz mit einem Gebet am Breitscheidplatz zum Ausdruck. Mit "großer Bestürzung" reagierte der Zentralrat der Juden in Deutschland auf den Anschlag in Berlin. "Ausgerechnet in der Vorweihnachtszeit, in der sich unsere Gesellschaft auf Werte wie Nächstenliebe, Güte und Frieden besinnt, wurde unser Land durch diesen abscheulichen Angriff erneut ins Mark getroffen", erklärte der Präsident des Zentralrats Josef Schuster. "Unsere Gedanken sind bei den Opfern, ihren Angehörigen und Freunden. Den Verletzten wünschen wir rasche Genesung." Zugleich betonte Schuster: "Unser Denken und Handeln darf dennoch nicht von Terror und Angst vereinnahmt werden."
Diese Zeit ist für uns gerade auch eine empfindungsstarke Zeit. Eine Zeit, in der wir auf viele Gefühle besonders reagieren, in den Familien zusammenstehen, eine Zeit, in der Friedenssehnsüchte so ganz wach und lebendig erfahrbar werden. Es gibt keinen brutaleren Schnitt als einen solchen Terroranschlag genau in diese Zeit wenige Tage vor dem Weihnachtsfest zu setzen. Das ist brutal, das ist menschenverachtend.
Auch Kulturschaffende und Veranstalter plädieren fürs Weitermachen
Kulturstaatsministerin Monika Grütters hatte im Berliner Kanzleramt zum Thema Chancengleichheit von Frauen in Kultur und Medien geladen. Doch nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt wollte sie nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Man habe sich entschieden, den Runden Tisch stattfinden zu lassen, sagte sie. Denn "solche Taten wollen funktionierende Gemeinwesen erschüttern. Dieser Effekt soll nicht eintreten, das Leben soll soweit angemessen weitergehen. Ich war gestern zufällig in der Nähe und habe gesehen, wie schnell und professionell Hilfe da war und damit umgegangen wurde. Das tut gut zu wissen, dass die Helfer gut gerüstet sind."
"Das war ein Anschlag auf unsere Kultur", konstatiert der langjährige Präsident der Akademie der Künste, Klaus Staeck, "das greift tief in unsere Seele ein." Man dürfe jetzt nicht mit Angst reagieren. "Tausende Weihnachtsmärkte in Deutschland", warnt der Künstler, würden sonst zur No-Go-Area, "unvorstellbar!" Ein Klima des Verdachts zerstöre unser Beisammensein. Leider sei der Anschlag eine "Steilvorlage für die Rechten.", sagte Staeck der DW.
Anschlag auf die Symbole des Westens
Die Leiterin des Heidelberger John Stuart Mills Instituts, Ulrike Ackermann, vermutet bei der Tat einen islamistischen Hintergrund. "Der Kampf gegen den Westen", sagt die Politikwissenschaftlerin, "geht gegen die vermeintlich Gottlosen und ihre Symbole vor." Den Weihnachtsmarkt-Anschlag sieht sie in einer Reihe mit den Terroranschlägen auf die Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo in Paris und den LKW-Angriff auf eine Menschenmenge im südfranzösischen Nizza. "Berlin ist ein tragischer Weckruf", meint Ackermann. "Es ist allerhöchste Zeit für eine breite öffentliche Diskussion, was diese Gesellschaft will, für welche Werte sie steht, was verhandelbar ist – und was nicht!" Gerade im Kulturbetrieb sei die Neigung verbreitet, deutsche Traditionen wie Weihnachten gering zu schätzen. Doch sei solcher Kulturrelativismus schon Teil einer Rückzugsdebatte, und somit "hochgefährlich".
Die Veranstalter von Weihnachtsmärkten wollen sich jedenfalls nicht einschüchtern lassen. Michael Fraas ist Wirtschaftsdezernent der Stadt Nürnberg und zuständig für das Marktamt, das unter anderem den Christkindles-Markt organisiert. Er hat selbst elf Jahre in Berlin gelebt und kennt den Markt. "Das trifft einen natürlich auch emotional, wenn man zuständig ist für einen der bekanntesten Weihnachtsmärkte. "Einige haben im Vorfeld gesagt, 'muss da denn so viel Polizei sein?'", erzählt er. "Jetzt sagen viele: 'Gut, dass die Polizei da ist'. Ich werde auch in den nächsten Tagen ohne Bedenken mit meinen Kindern auf den Weihnachtsmarkt gehen."
Ähnlich sieht das Brauchtumsforscher Manfred Becker-Huberti: "Ich glaube, die Menschen werden es sich nicht nehmen lassen, auf die Märkte zu gehen. Vorsichtig sein ist die eine Sache, die andere Sache ist, vor Angst davonzulaufen. Genau diese Angst dürfen wir nicht zeigen, und wir dürfen sie nicht in unserem Herzen gewinnen lassen."
Was der Fachmann empfiehlt
Eine Einstellung, die Christian Lüdke gegenüber der DW unterstreicht. Der Experte für Trauma-Behandlung betreut bundesweit und international Menschen nach traumatischen Ereignissen - auch nach Terroranschlägen. "In einer offenen Gesellschaft, in der wir leben, gibt es keine hundertprozentige Sicherheit. Von daher sollten wir möglichst schnell wieder in die Normalität des Alltags zurückkehren, denn der Alltag gibt uns Sicherheit, im Alltag kennen wir uns aus." Dieser Ratschlag klingt wie ein trotziges Jetzt-erst-recht. Und Lüdke geht noch weiter: "Wir sollten uns auch nicht davon abhalten lassen, heute auf den Weihnachtsmarkt zu gehen, unsere Weihnachtsgeschenke einzukaufen, Großveranstaltungen zu besuchen."
Und das nächste Riesen-Event steht bevor: Silvester. Der Berliner Lichtkünstler Philipp Geist zeigt sich im DW-Gespräch zwar "sehr geschockt", dennoch sagt der Mann, der am 31. Dezember in Köln die große Lichtinstallation auf Domplatte und Roncalliplatz inszenieren wird: "Ich denke, es ist wichtig weiterzumachen und nicht die Angst gewinnen zu lassen und zu sagen, wir gehen jetzt nicht mehr auf den Weihnachtsmarkt oder feiern kein Weihnachten und Silvester mehr." Es sei wichtig, "seine eigenen Werte und sein eigenes Verständnis auch zu leben", so Geist.
Silvester am Brandenburger Tor
Und was ist mit Silvester vor dem Brandenburger Tor? Wie gefährlich ist es, zu Hunderttausenden unter freiem Himmel zu feiern? Willy Kausch ist Veranstalter der Riesenparty. Seine Sprecherin Anja Marx versichert gegenüber der DW: "Wir haben ein bewährtes Sicherheitskonzept, ein anderes als auf den Weihnachtsmärkten. Unter anderem wird das Gelände eingezäunt sein, videoüberwacht, und wir werden Taschenkontrollen durchführen." Darüber hinaus stehe man mit den Behörden in Kontakt und werde eventuell nachjustieren, wenn es nötig sei. Marx blickt trotz des Anschlags vom Breitscheidplatz mit Zuversicht auf die bevorstehende Mammut-Veranstaltung zum Jahreswechsel.
Und trotzdem: "Deutschland hat seine Unschuld verloren"
Andy Spyra ist freiberuflicher Fotograf und berichtet vorwiegend in Langzeitprojekten aus diversen Krisenregionen wie Syrien, Irak oder Nigeria. Derzeit lebt er in Dortmund. Spyra zählt zu den gefragtesten Fotojournalisten in Deutschland, arbeitete unter anderem mit der Zeit, dem Stern oder GEO zusammen. Zu dem Anschlag in Berlin sagte er im DW-Interview: "Ich kam am Freitag aus dem Irak wieder, zurück zu meinen Kindern, ins heimelige Deutschland. Deutschland war immer das unschuldige Deutschland für mich, und jetzt hat es für mich seine Unschuld verloren. Das, was passiert ist, waren immer Szenarien aus denen ich sonst immer zurückgekehrt bin - aus Ländern wie dem Irak, Syrien oder Afghanistan. Es war eine Frage der simplen Mathematik, dass es hier irgendwann auch knallt, aber was es dann letztendlich emotional in einem auslöst, das hatte ich nicht vorausgesehen. Und deswegen war ich auch gestern über meine eigene Reaktion überrascht, dass es mich dann doch so tief getroffen hat - in meinem Sicherheitsgefühl. Das ist ein Gefühl der Verletzbarkeit, das, glaube ich, entstanden ist."