Ein gemeinsames Ziel
5. November 2009Im Interview: Dirk Rochtus ist Professor für Deutsche Geschichte und Internationale Beziehungen an der Lessius Hochschule Antwerpen, in Assoziation mit Katholischen Universität Leuven.
DW-WORLD.DE: Professor Rochtus, wie haben Sie als Belgier den Fall der Berliner Mauer vor 20 Jahren erlebt?
Dirk Rochtus: Was für mich das Wichtigste war, ist, dass es um die Freiheit und um die Demokratie ging. In dem Moment habe ich noch nicht daran gedacht, dass sich die deutsche Einheit verwirklichen wird, genauso wie die meisten Belgier. Für uns kam es darauf an, dass die Deutschen ihr Selbstbestimmungsrecht ausüben und vor allem, dass die DDR-Bürger damals ihre Freiheitsrechte verwirklichen können, das war für uns das Wichtigste.
Welche Reaktion hat der Mauerfall bei den Bürgern im kleinen Nachbarland Belgien ausgelöst?
Deutsche Einheit bedeutet auch europäische Einheit, das war uns klar in Belgien. Wenn die beiden deutschen Staaten sich vereinigen, bedeutet das auch das Ende der Spaltung Europas - und das finden wir eine ganz gute Sache. Darüber haben sich die Belgier sicher gefreut. Der Krieg selbst, natürlich sind da ältere Leute, die noch Erinnerungen haben, aber im Allgemeinen muss man doch sagen, dass man das sehr nüchtern auffasst und dass wir einen Unterschied machen zwischen einem Volk - dem deutschen Volk in diesem Falle - und dem Regime, das über dieses Volk geherrscht hat und noch das Besatzungsregime geführt hat in Belgien. Da machen wir einen ganz großen Unterschied.
Belgien und Deutschland sind Gründungsmitglieder der heutigen EU. Welche Ähnlichkeiten gibt es zwischen den Ländern?
Sie verfolgen beide dasselbe Ziel: die weitere Vertiefung der europäischen Einheit. Es kommt hinzu, dass beide Staaten föderal sind und in dem Sinne versteht man einander auch. Die Probleme, die Föderalstaaten in Bezug auf Bund und Länder haben kennen wir auch. In dieser Hinsicht verstehen wir Deutschland natürlich und umgekehrt glaube ich, dass Deutschland Belgien auch ein bisschen versteht.
Wie gut kennen die Belgier grundsätzlich Deutschland?
Sagen wir mal, dass die Flamen Deutschland doch ein wenig besser kennen als die Wallonen, weil die deutsche Sprache uns ein bisschen näher ist trotz allem. Für frankophone Belgier ist es viel weiter weg. Sie kennen Deutschland noch weniger gut als die Flamen, doch ich muss sagen, die Flamen kennen Deutschland im Moment auch nicht sehr gut. Vor 20 Jahren war das noch ein bisschen anders.
Der deutschsprachigen Gemeinschaft sagt man nach, dass sie die loyalsten Belgier sind. Ich glaube nicht, dass sie einen besonderen Grund hatten, zu jubeln, dass sie sagen: "Aha, die deutsche Einheit kommt und wir werden Teil der deutschen Nation". So denken sie überhaupt nicht. Sie fühlen sich als Teil des belgischen Staates und der belgischen Nation.
Nun wird Belgien selbst als ein im Inneren gespaltenes Land wahrgenommen. Wie hat sich die deutsche Wiedervereinigung auf das Nachbarland ausgewirkt - wenn überhaupt?
Es ist ein Paradox, dass die beiden deutschen Staaten sich wiedervereinigt haben und damit auch zur europäischen Einheit beigetragen haben, aber dass andere Staaten auseinanderfallen. Belgien entkommt diesem inneren Druck nicht. Im Gegenteil, die zentrifugalen Kräfte sind hier seit den 1990er-Jahren noch stärker geworden, und das wird natürlich auch ein bisschen legitimiert mit Europa. Man kann sagen "Gut, wenn Belgien mehr dezentralisiert wird und sogar eines Tages auseinander driften würde, sind wir noch immer in der Europäischen Union." Ich sage immer: "Wenn das belgische Ei bricht, sind wir immer noch im europäischen Omelett." Die Tatsache, dass wir noch immer Europa als Hintergrund haben, nimmt diesem Dezentralisierungsprozess die Schärfe.
Vom europäischen Omelett noch einmal zum belgisch-deutschen Verhältnis: Wie würden Sie den Status Quo zusammenfassen?
Belgien steht Deutschland positiv gegenüber. Das heißt nicht, dass die Leute Deutschland sehr gut kennen. Das ist eine andere Sache. Aber diejenigen, die Deutschland kennen, von Berufs wegen oder weil sie Kontakte nach Deutschland haben, haben ein sehr gutes Verhältnis zu Deutschland und den Deutschen. Auf offizieller Ebene kommen die Parallelen in der Staatsstruktur hinzu, sodass man die gegenseitigen Probleme besser versteht. Wichtig ist auch derselbe Drang, die europäische Integration voranzutreiben.
Das Interview führte Susanne Henn.
Redaktion: Julia Kuckelkorn