Deutlich mehr sexuelle Gewalt in Indonesien
26. April 2017Yuyun war 14 und auf dem Rückweg von ihrer Schule. Sie lebte in einem kleinen Dorf in Bengkulu, einer Provinz an der Südwestküste der Insel Sumatra. Die Menschen hier sind arm, arbeiten für Hungerlöhne im Gold- oder Kohlebergbau, auf Kaffee- oder Kautschukplantagen. Yuyun, so wird es ihre Mutter später den Journalisten erzählen, war eine gute Schülerin. Sie träumte davon, selbst Lehrerin zu werden. Doch an diesem 2. April 2016 kam Yuyun nach der Schule nicht nach Hause. Eine Gruppe junger Männer, angetrunken und offenbar völlig enthemmt, zog sie von der Straße in ein angrenzendes Waldstück, vergewaltigte sie dort mehrfach und ermordete sie. Yuyuns Leiche, nackt und mit Blutergüssen übersät, wurde erst drei Tage später gefunden.
Bengkulu ist eine abgelegene Provinz. Vielleicht liegt es auch daran, dass das Verbrechen zunächst kaum mediale Aufmerksamkeit auf sich zog. Nur die lokale Presse berichtete in ein paar dünnen Zeilen darüber. Womöglich wäre es auch dabei geblieben, wenn nicht durch Zufall einige Frauenrechtlerinnen auf den Fall aufmerksam geworden wären. Sie machten immer mehr Details publik, starteten eine Twitterkampagne und demonstrierten vor dem Parlament in Jakarta. Damit lösten sie eine breite gesellschaftliche Diskussion über Pädophilie und Sexualverbrechen im Land aus. Unter dem öffentlichen Druck nahm die Polizei erst zwölf, später dann noch zwei weitere Verdächtige fest.
Immer jünger, immer enthemmter
Yuyun ist beileibe kein Einzelfall. Im Gegenteil: Experten beobachten mit großer Sorge eine sprunghaft angestiegene Zahl bekannt gewordener Gruppenvergewaltigungen in Indonesien. 2015 waren landesweit 44 Fälle angezeigt worden. Im vergangenen Jahr waren es bereits 82. Und auch in den ersten drei Monaten dieses Jahres sind schon 26 Fälle bekannt geworden. Bei dreien davon kamen die Opfer ums Leben.
Auch Arist Merdeka Sirait, der Vorsitzende der Nationalen Kinderschutzkommission (Komnas PA), schlägt Alarm. Anfang des Monats veröffentlichte seine Behörde einen Bericht, der einen erschütternden Blick auf die Hintergründe dieser Sexualverbrechen wirft.
Besonders erschreckend: Dabei werden die Täter immer jünger – und die Anzahl der Beteiligten immer größer. "An der Vergewaltigung von Yuyun in Bengkulu waren insgesamt 14 Vergewaltiger beteiligt, an einer weiteren in Samarinda 13 und an noch einer in Semarang 14", so Sirait. Einige der Täter seien nicht einmal 14 Jahre alt.
Auflösung traditioneller Familienstrukturen
Auch Caroline Sperling, Regionaldirektorin Südostasien bei AWO International, sieht diese Entwicklung mit Sorge. Ihre Organisation setzt sich gemeinsam mit der Partnerorganisation "Mitra Wacana" vor Ort dafür ein, sexuelle Gewalt gegen Frauen in Indonesien zu bekämpfen. Sperling sieht in der weit verbreiteten Binnenmigration eine wichtige Ursache für die Zunahme sexueller Gewalt. "Es gibt schon seit Jahrzehnten eine große Landflucht in Indonesien", so Sperling. Gerade junge Menschen strömen in Scharen in die Städte auf der Suche nach Arbeit. "Damit einher geht ein Zusammenbruch gesellschaftlicher Kontrollmechanismen auf dörflicher Ebene. Familienstrukturen lösen sich auf, junge Menschen werden vermehrt allein gelassen." Hinzu komme die immer weitere Verbreitung neuer Medien. "Mobiltelefone sind auch unter ärmeren Bevölkerungsgruppen sehr weit verbreitet. Aber der Zugriff der Eltern auf ihre Kinder ist eben nicht mehr so gegeben wie früher." Die Eltern wüssten kaum etwas darüber, was ihre Kinder in den sozialen Medien konsumierten und hätten daher auch keinen Einfluss darauf, ihnen eine entsprechende Werteerziehung zuteil werden zu lassen. "Wenn junge Menschen aber unreflektiert in Kontakt mit sexuellen Inhalten in sozialen Netzwerken kommen," so Sperling, "dann entstehen da Vorstellungen über den sexuellen Umgang miteinander, die sich nicht mit der Realität decken." Hinzu komme, dass in Indonesien viel zu wenig im Bereich der sexuellen Aufklärung getan werde.
Inkonsequente Strafverfolgung
Die zunehmende Zahl sexueller Übergriffe auf Frauen und Mädchen hat auch die Regierung in Jakarta alarmiert. Das Parlament hat auf die steigende Zahl von Missbrauchsfällen mit aller Härte reagiert und im vergangenen Jahr die Strafen für Vergewaltigungen an Kindern drastisch verschärft. Zudem hat Präsident Joko Widodo ein Gesetz zur chemischen Kastration von Sexualstraftätern erlassen. "Wenn wir diese chemische Kastration konsequent durchführen, wird dies zu einem Rückgang und schlussendlich zu einem kompletten Ende von Sexualverbrechen führen", zeigte er sich überzeugt.
Bislang jedoch ist von der abschreckenden Wirkung solcher Maßnahmen nicht viel zu spüren, sagt Caroline Sperling: "Die Regierung bemüht sich sehr darum, Gesetze zur verbesserten Strafverfolgung zu erlassen. Diese müssen aber auch umgesetzt werden, und genau daran scheitert es." Denn nur ein Bruchteil der sexuellen Straftaten werde konsequent verfolgt. "Die Mehrheit der Fälle verläuft im Sande. Es kommt kaum zu gerichtlichen Prozessen oder gar abgeschlossenen Verfahren." Eine große Schwierigkeit liege in der Tabuisierung des Themas in der Gesellschaft. "Insbesondere in den ländlichen Gegenden haben wir es mit sehr traditionellen Gesellschaftsformen zu tun, in denen die Opfer von sexueller Gewalt meist als Täter gesehen werden. Frauen und Mädchen wird unterstellt, dass sie die Situation provoziert hätten und eigentlich selber an ihrer Vergewaltigung schuld seien."
Stigmatisierung und fehlende Aufklärung
Für viele Frauen kommt es sogar noch schlimmer: "Oft werden minderjährige Opfer sexueller Gewalt zur Heirat mit den Tätern gezwungen", berichtet Caroline Sperling. Aus Furcht vor gesellschaftlicher Stigmatisierung, aber auch, weil es zu ungewollten Schwangerschaften komme. Besonders schwerwiegend sei hierbei, dass schwangere Minderjährige aus den Schulen ausgeschlossen werden, so Sperling. "Und wenn eine Schwangere einmal den Schulbetrieb verlassen hat, dann geht sie im Regelfall nach der Entbindung auch nicht mehr in die Schule zurück. Dadurch bleiben die Mädchen ihr Leben lang finanziell extrem abhängig." Zwangsheiraten sind in Indonesien verboten. Die indonesische Regierung hat auch erklärt, verstärkt gegen Zwangsheiraten vorzugehen. "Nichtsdestotrotz sind sie immer noch sehr verbreitet – insbesondere im ländlichen Raum." Aus ihrer Sicht fehle es vor allem an sexueller Aufklärung – "diese ist in Indonesien noch immer sehr schlecht". Außerdem brauche das Land eine breit angelegte gesellschaftliche Diskussion über sexuelle Gewalt. "An den bestehenden Strukturen wirklich etwas zu ändern, ist ein sehr langsamer Prozess, das geht sicher nicht von heute auf morgen", so Sperling.
Der Fall Yuyun zumindest hat eine breite gesellschaftliche Diskussion ausgelöst. Indonesiens Gesellschaft hat den Prozess mit hoher Aufmerksamkeit verfolgt. Im September 2016 wurde der 23 Jahre alte Anführer der Gruppenvergewaltigung zum Tode verurteilt. Die übrigen 13 Vergewaltiger waren zum Tatzeitpunkt noch minderjährig und erhielten mehrjährige Haftstrafen.