Der Untergang des Dritten Reichs
13. Januar 2012Mit seiner großen, 2000seitigen Hitler-Biographie ist der Brite Ian Kershaw Ende der 1990er Jahre zu einem der Stars der internationalen Historikerzunft avanciert. In seinem aktuellen Buch "Das Ende – Kampf bis in den Untergang" geht der 68-jährige Historiker jetzt der Frage nach, warum das "Dritte Reich" auch in der apokalyptischen Schlussphase des Kriegs noch relativ reibungslos funktionierte. Noch im April 1945 wurden in Deutschland Löhne und Gehälter bezahlt, die Berliner Philharmoniker traten mit Konzerten auf, der FC Bayern München spielte Fußball, die deutschen Truppen wurden mit Waffen und Munition beliefert. Selbst die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln war bis in die letzten Kriegstage hinein gewährleistet, auch wenn es da und dort natürlich Engpässe gab.
Preußischer Militarismus
Ian Kershaw fragt, wie das möglich war: Warum hat das deutsche Volk den Wahnsinn des Krieges bis zum unaufschiebbaren Zusammenbruch erduldet, ohne wie im November 1918 einen Aufstand vom Zaun zu brechen? "Die Antwort ist ganz einfach", so Kershaw. "Sie lautet: Terror. Der Terror durch den nationalsozialistischen Unterdrückungsapparat war so groß, dass eine Revolution von unten denk-unmöglich war." Das sei auch der Hauptunterschied zum Ende des Ersten Weltkriegs gewesen. 1918 habe es ein Parlament in Deutschland gegeben, politische Parteien und sogar eine Friedensbewegung, es gab keine Gestapo und auch keine feindlichen Soldaten auf deutschem Boden. "Die Situation 1918 war vollkommen anders als 1945", so Kershaw. "Auch in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs reichte der Terror vollkommen aus, um eine revolutionäre Bedrohung des Regimes auszuschalten."
Auf anschauliche Weise analysiert Ian Kershaw in seinem 700seitigen Werk den Untergang des Hitler-Reichs. Beeindruckend die Detailkenntnis, mit der der britische Historiker die Befehlsstrukturen des Dritten Reichs bis ins dritte und vierte Glied hinein aufschlüsselt. Warum, so Kershaw, folgten auch hohe und höchste Wehrmachtsgenerale den immer gespenstischeren Anordnungen Hitlers? Es waren zum einen die unheilvollen Traditionen des preußischen Militarismus, die da nachwirkten, zum anderen hatten die Nazis es Kershaws Interpretation zufolge auch meisterhaft verstanden, alte soldatische Begriffe wie "Pflicht" und "Ehre" für ihre Zwecke auszubeuten.
Fügsamkeit im Führer-Staat
Ian Kershaws Haupterklärung für die bizarre Fügsamkeit der Deutschen ist allerdings eine strukturelle: Anders als etwa das faschistische Italien war das nationalsozialistische Deutschland tatsächlich ein "Führerstaat".
Mussolini musste während seiner gesamten Amtszeit Rücksicht nehmen auf König Viktor Emanuel III. und den "Großen Faschistischen Rat", der ihn im Juli 1943 absetzte. Das bedeutete eine partielle Machtteilung. Etwas Vergleichbares gab es in Deutschland nicht. Hitler war nichts und niemandem Rechenschaft schuldig, es gab keine Institution, mit der er sich hätte abstimmen müssen. Und da Hitler beschlossen hatte, den Krieg in Selbstzerstörung münden zu lassen, hatte das deutsche Volk kaum eine andere Wahl, als ihm dabei mehr oder minder widerspruchslos zu folgen.
Auch in seinem neuen Buch erweist sich Ian Kershaw als Meister der "narrativen Geschichtsschreibung". In historiographischem Cinemascope bietet der britische Historiker eine schlüssige und einprägsame Interpretation der letzten Kriegsmonate. Es ist großes, ganz großes Geschichtskino, was Kershaw seinem Publikum da vorführt.
Autor: Günter Kaindlstorfer
Redaktion: Gabriela Schaaf
Ian Kershaw wird auf der Leipziger Buchmesse (15.März) zusammen mit dem US-Hisotriker Timothy Snyder mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2012 ausgezeichnet.
Das Buch:
Ian Kershaw: "Das Ende – Kampf bis in den Untergang – NS-Deutschland 1944/45". Aus dem Englischen von Klaus Binder, Bernd Leineweber und Martin Pfeiffer. DVA 2011; 704 Seiten; EUR 29,99.