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Der Traum von Standards

31. Mai 2011

Kinderarbeit in Indien oder Urwaldrodung in Brasilien - mancherorts können europäische Unternehmen die hohen Umwelt- und Sozialstandards der EU bequem umgehen. Warum greift Brüssel nicht ein?

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Zwei Kinder arbeiten mit schweren Werkzeugen in einem indischen Steinbruch (Foto: Benjamin Pütter / AGEH - Misereor)
Kinderarbeit in indischen SteinbrüchenBild: Benjamin Pütter / AGEH - Misereor
Thomas Dodd ist bei der EU-Generaldirektion Unternehmen und Industrie zuständig für den Bereich Unternehmensverantwortung, (Foto: DW / Katrin Matthaei)
Die EU setzt auf Eigenverantwortung der UnternehmenBild: Katrin Matthaei

In seinem kleinen Kommissionsbüro empfängt der britische EU-Beamte Thomas Dodd selten Besuch. Auf dem Schreibtisch türmen sich Broschüren internationaler Konzerne, zuoberst liegt ein Hochglanzmagazin von American Tobacco. Dodd räumt es rasch weg, es ist ihm unangenehm. Verständlich: Er gehört der Generaldirektion Unternehmen und Industrie der Europäischen Kommission an. Er entwickelt Regeln für europäische Unternehmen und deren soziale und ökologische Verantwortung auf der Welt. Das Dilemma liegt auf der Hand: Wie kann man denjenigen Vorschriften machen, die sich gegen die Konkurrenz aus China oder Indien behaupten müssen, um 500 Millionen EU-Bürgern Jobs und Wohlstand zu sichern?

"Unternehmen leisten heute einen großen Beitrag zur Entwicklung schwächerer Staaten, bei der Armutsbekämpfung und bei Menschenrechten", lobt Dodd. Zwar gebe es auch andere Fälle, aber das seien Ausnahmen. Und so setzt die EU-Kommission - sonst kein Feind von strengen Auflagen - hier vor allem auf Freiwilligkeit. Dabei machen Nichtregierungsorganisationen immer wieder darauf aufmerksam, dass europäische Unternehmen direkt oder indirekt an der Ausbeutung von Mensch und Umwelt in Entwicklungs- und Schwellenländern beteiligt sind.

Näherinnen in Chinas Textilindustrie (Foto: picture alliance)
Europäische Unternehmen haben auch Einfluss auf die Arbeitsbedingungen in Asiens TextilindustrieBild: picture alliance / Xie zhengyi - Imaginechina

Freiwilligkeit - mit Druck

Ein Beispiel: Laut der deutschen Organisation Germanwatch soll ein vormals wichtiger chinesischer Textilzulieferer des Handelsdiscounters Aldi seine Arbeiter in sklavenähnlichen Zuständen gehalten haben. Nach Bekanntwerden trat Aldi der "Business Social Compliance Initiative" (BSCI) bei. In dieser Initiative verpflichten sich mehr als 500 Unternehmen freiwillig zur Einhaltung internationaler Arbeitsschutznormen und zum Umweltschutz. Ob sich die Unternehmen auch daran halten, überprüfen sie dann allerdings selbst. Und: Die Ergebnisse werden nicht veröffentlicht.

Sven Giegold, EU-Abgeordneter (Bündnis '90/Die Grünen) (Foto: DW / Katrin Matthaei)
Giegold: Regeln sind besser als SelbstkontrolleBild: Katrin Matthaei

Grundsätzlich finde er Freiwilligkeit gut, sagt Sven Giegold. Der Deutsche hat die globalisierungskritische Nichtregierungsorganisation attac mitgegründet und vertritt nun die Grünen im EU- Parlament. Aber ohne gesetzliche Regelungen seien "diejenigen, die freiwillig handeln, die Dummen", weil sie zusätzliche Kosten und Wettbewerbsnachteile auf sich nehmen. Daher sei es "absolut notwendig, dass die EU zu starken gesetzlichen Regeln" komme.

Unternehmensverantwortung - mit Gesetz

Das fordert auch die "European Coalition for Corporate Justice" (ECCJ), eine Initiative von rund 250 europäischen NGOs, darunter Germanwatch. Die Initiative setzt sich in Brüssel für drei zentrale Forderungen ein. Erstens: Europäische Unternehmen sollen sowohl für ihre Tochterfirmen als auch für ihre Zulieferer in Drittstaaten haften. Die Verantwortung wäre dann nicht an Unternehmensgrenzen gebunden. Zweitens: Firmen sollen Bericht ablegen über die sozialen und ökologischen Folgen ihrer Geschäfte. Verbraucher könnten sich dann gezielt für verantwortungsvolle Hersteller entscheiden.

Porträt von Gustavo Hernandez, 'European Cooperation for Corporate Justice' (Foto: DW / Katrin Matthaei)
NGOs wollen, dass Unternehmen zur Rechenschaft gezogen werden könnenBild: Katrin Matthaei

Gustavo Hernandez (ECCJ) erläutert die dritte Forderung: "Menschen in Entwicklungsländern, die durch europäische Firmen geschädigt wurden, müssen Zugang zu europäischen Gerichten bekommen." Im Fall Aldi etwa konnten die betroffenen chinesischen Arbeiter den Discounter - als eigentlichen Auftraggeber - vor keinem deutschen oder europäischen Gericht verklagen. Warum, erklärt der Kommissionsbeamte Thomas Dodd: "Zuerst müssen natürlich die betroffenen Staaten selbst sicherstellen, dass sie kriminelle Unternehmen zur Rechenschaft ziehen." Das sei nicht immer einfach, fügt er mit Bedauern hinzu, deshalb helfe die EU solchen Ländern beim Aufbau eines funktionierenden Regierungs- und Rechtsapparats.

Europa - mit Lichtblick

Die EU verfolge hier eine Doppelmoral, ärgert sich der EU-Abgeordnete Giegold. "Die europäischen Werte werden nach wie vor von vielen als interessantes Angebot empfunden: persönliche Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und eine leistungsfähige Wirtschaft zusammenzubringen - das ist ein Traum, den viele Menschen verfolgen. Gleichzeitig sehen sie aber, wie sich unsere Unternehmen in anderen Teilen dieser Welt verhalten. Und damit verliert dieser europäische Traum an Strahlkraft", warnt Giegold.

Kleine Lichtblicke gibt es aber doch: Am 13. Juli veröffentlicht die Kommission ein neues Strategiepapier zur Unternehmensverantwortung. Und: Bis Jahresende will sie einen Gesetzentwurf vorlegen, wonach Unternehmen über die sozialen und ökologischen Folgen ihrer Geschäftstätigkeit in Drittstaaten berichten müssen. Wichtige Details werden noch verhandelt. Es könnte ein Anfang sein.

Autorin. Katrin Matthaei, Brüssel
Redaktion: Ulrike Mast-Kirschning