Der Tag, den man nie vergisst
25. Februar 2019Diesen Tag wird Marek Lisinski niemals vergessen. Es war der 13. Dezember 1981, ein Sonntag und die letzte Nacht, die er bei seinem Täter verbrachte.
Der damals 13-jährige beschloss am Morgen dieses Tages seiner Mutter und Großeltern ein Geheimnis anzuvertrauen. Der Ortspfarrer "tue ihm böse Sachen an", eröffnete der Junge seiner Familie. Der Junge hatte den falschen Tag für seine wichtige Mitteilung gewählt. Just an dem Tag verhängte der kommunistische General Wojciech Jaruzelski den Kriegszustand über Polen. Im Fernsehen war ununterbrochen die Rede des Generals zu hören. Das Wort "Krieg" erweckte bei der Familie die schlimmsten Erinnerungen an die Zeit der deutschen Besatzung Polens. In der Aufregung geht die unbeholfene Aussage des Jungen einfach unter. "Heute verstehe ich das", sagt Marek Lisinski, "aber jahrelang wollte ich es ihnen nicht vergeben."
Er bleibt mit seinem Trauma allein. Mit 14 fängt er an zu trinken, wird Alkoholiker. Über den regelmäßigen Missbrauch durch den Ortspfarrer verliert er volle 30 Jahre kein Wort. Erst mit 43 bricht er sein Schwiegen, beginnt eine Therapie, die bis heute andauert. Therapie hin oder her: Die Erinnerungen lassen ihn nicht los.
Mit seinen 51 Jahren habe er immer noch Albträume, in denen er die Szenen des Missbrauchs nochmals erlebe. Es komme zu seltsamen Momenten mitten am helllichten Tag, bekennt er. Manchmal verspüre er den Drang, sich selbst zu umarmen. "Das heißt: Ich muss den 13-jährigen in mir umarmen, der damals keine Hilfe bekommen hat. Das Problem dabei: ich kann ihn nicht lieben", sagt Lisinski und sein Gesicht versteinert.
Die Strafe für den Täter: drei Jahre Suspendierung vom Priesteramt. Heute arbeitet er wieder als Geistlicher. Der Zivilprozess läuft noch.
"Spiritueller Missbrauch"
Lisinski, ein großgewachsener Mann mit grauen Haaren und traumatisiertem Blick, sitzt in einem römischen Cafe und trinkt seine Cola-Zero. Seit 15 Jahren sei er trocken, sagt er. Er habe sein Leben irgendwie auf die Reihe bekommen. 2013 hat er sogar beschlossen, eine Organisation zu gründen, die Opfer des Missbrauchs unterstützt.
Eines der Missbrauchsopfer ist Mariusz Milewski. "Er war ein schwerer Fall", berichtet Lisinski und runzelt dabei die Stirn. "Völlig vereinsamt, sein Peiniger war besonders perfide." Der Geistliche soll sogar die Beichte für seine Zwecke missbraucht haben. "Er war der Beichtvater der ganzen Familie, wusste ganz genau ihre Schwächen auszunutzen." So wusste der Pfarrer, dass der damals 9-jährige Messdiener in einer Problemfamilie aufwuchs. Zu Hause gab es nicht mal ein Badezimmer.
"Er lud mich in seine Wohnung ein. Er fragte, ob ich nicht baden möchte. Ich sagte ja, wir hatten zu Hause nicht mal fließendes Wasser. Es wurde mir aber mulmig, als er mich selbst zu waschen begann. Und danach zwang er mich zum ersten Mal zum Oral-Sex", erinnert sich der heute 28-jährige Mann mit traurigem Blick.
Neun Jahre lang habe der Pfarrer ihn missbraucht. Ob er nicht das Bedürfnis hatte, jemandem davon zu erzählen? - Milewski, der freundliche und eloquente Typ, zuckt die Arme. "Wer sollte einem Kind aus einer Alkoholikerfamilie Glauben schenken?"
Das sei "ganz typisch", meint Marek Lisinski. Der pädophile Priester sucht sich bewusst solche Opfer aus. Außerdem übe er Druck aus: "Wenn du redest, wird Deine Mutter sterben" oder "du kommst nicht in den Himmel". "Spiritueller Missbrauch", nennt das die Theologin Doris Wagner, ebenfalls ein Missbrauchs-Opfer, in ihrem Buch unter dem gleichen Titel.
Wie sein Helfer Lisinski, wird auch Mariusz von Alpträumen heimgesucht. Einer, der oft wiederkehrt, ist der, in dem der Pfarrer ihn anschreit: "Warum hast Du mir das angetan?". Massive Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle gehören zu den typischen Folgen des Missbrauchs, haben Psychologen herausgefunden.
"Der Film war untertrieben"
Sowohl Lisinski als auch Milewski berichten übereinstimmend von Alpträumen anderer Art. So ein Alptraum war für sie der "kanonische Prozess" gegen die Priester, die sie bei den kirchlichen Behörden angezeigt haben. "In dem berühmten Film 'Klerus'gibt es eine erschütternde Szene, wo ein Priesterrat ein Opfer verhört und ihm droht. In meinem Fall war die Realität schlimmer als im Film. Alle waren gegen mich, sogar der Priester, der mein Interessenvertreter sein sollte", erzählt Milewski, der dies als Erniedrigung empfunden hat. "Die Kirche wollte mich als jemanden darstellen, der lügt und nur auf's Geld aus ist."
Am Ende wird der Priester vom Bischofsgericht sogar freigesprochen. Der Prozess vor einem zivilen Gericht nimmt aber einen anderen Verlauf. Hier wird der Priester für schuldig befunden. Er muss für drei Jahre ins Gefängnis, darf zehn Jahre nicht mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. "Wenigstens mein Staat hat mich nicht im Stich gelassen", sagt Milewski. Die Genugtuung ist ihm anzumerken: "Ja, ich fühle Erleichterung."
Opfer des Missbrauchs in der katholischen Kirche betonen übereinstimmend, dass das Verhalten der kirchlichen Behörden, die ihren Berichten keinen Glauben schenken wollen, genauso traumatisierend sei, wie die Verbrechen selbst. Charakteristisch ist auch, dass weder Lisinski noch Milewski keinen einzigen Priester getroffen haben, der gesagt habe, dass er ihnen glaube. Bis auf einen. Nach 38 Jahren des Wartens.
"Zum ersten Mal respektiert"
"Ich habe ihm gesagt, dass ich als Kind Opfer eines pädophilen Priesters war. Sein Gesichtsausdruck wechselte von neutral zu traurig. In diesem Moment sah ich Tränen in seinen Augen. Sein Gesicht bebte und dann küsste er mir die Hand", erinnert sich Lisinski. Auch in seinen Augen leuchten jetzt Tränen. "Zum ersten Mal nach 38 Jahren fühlte ich mich frei, frei von Schuld- und Schamgefühlen. Jetzt schreiben mir die anderen Opfer, dass sie sich auch von dieser Geste berührt fühlen. Seit fünf Jahren bemühe ich mit vergeblich in Polen von Hierarchen empfangen zu werden. Ich werde ignoriert und beschimpft. Hier war es das erste Mal, dass mir ein Geistlicher zeigte, dass er mir glaubt und mich respektiert".
Der Geistliche war Papst Franziskus. Es war der 20. Februar 2019. Ein zweites Datum in seinem Leben, das Marek Lisinski bis an sein Lebensende nicht vergessen wird.