Der schwere Weg des libyschen Übergangsrates
15. Juni 2012Seit dem gewaltsamen Tod von Muammar al-Gaddafi im Oktober 2011 steht Libyen vor der Herausforderung, einen neuen Staat aufzubauen. Ende Juni sollen 200 Mitglieder einer Generalversammlung gewählt werden, die den zurzeit regierenden Nationalen Übergangsrat (NTC) ablösen wird. Die gewählte Generalversammlung soll dann eine Interimsregierung und ein Komitee ernennen, das einen Verfassungsentwurf ausarbeitet. Frühestens im Mai 2013 werden reguläre Neuwahlen stattfinden, bei denen eine neue Regierung und ein neues Parlament auf der Grundlage einer Verfassung gewählt werden.
Doch für den Aufbau eines Staates mit Verfassung, Institutionen und einer funktionierenden wirtschaftlichen Infrastruktur gibt es in Libyen kaum Grundlagen. "Gaddafi hat in seiner 'Volksmassenrepublik' alle Institutionen eliminiert, die für einen modernen demokratischen Staat unentbehrlich sind", sagt Günter Meyer, Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt an der Universität Mainz. Der ehemalige libysche Staatschef wollte dadurch sämtliche Machtzentren ausschalten, die für ihn und seine Familie eine Gefahr darstellten.
Übergangsrat in der Krise
Damit ein staatlicher Wiederaufbau Erfolg hat, muss der NTC allerdings erst einmal die tiefe Krise überwinden, in der er sich zurzeit befindet. Stämme, Milizen und ganze Regionen sind faktisch von ihm unabhängig und verfolgen ihre eigene Politik. Potenziert wird das Problem dadurch, dass der Übergangsrat nicht immer zu wissen scheint, was er will: Mal spricht er ein Misstrauensvotum gegen die provisorische Regierung von Abdel Rahim al-Kib aus, dann kippt er ein geplantes Gesetz, das das Verbot stammesorientierter und religiöser Parteien vorsah.
Besonders ernüchternd fällt die Bilanz aus, wenn es um die Untersuchung von Übergriffen und Gräueltaten während der Revolution geht. "Die Aufarbeitung der Verbrechen, die während und nach dem Bürgerkrieg begangen wurden, hat der Nationale Übergangsrat noch gar nicht auf den Weg gebracht", unterstreicht Libyen-Experte Wolfram Lacher von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Doch solange es kein unabhängiges Justizwesen zur Aufklärung von Kriegsverbrechen gibt, wächst das Risiko bewaffneter Konflikte und das der Selbstjustiz. Erst kürzlich erließ der NTC ein Gesetz, das Anti-Gaddafi-Kämpfern Straffreiheit gewährt und Gaddafi-Anhängern eine Freilassung in Aussicht stellt. Das sei kein gutes Zeichen für den Prozess der Übergangsjustiz, der sehr dringend stattfinden müsse, meint Libyen-Experte Lacher.
Schlecht organisierte Parteien
Nach mehr als 40 Jahren Gaddafi-Herrschaft ein funktionierendes politisches Leben aufzubauen, ist für das Land besonders schwierig, weil politische Organisationen unter dem Ex-Machthaber verboten waren. Der NTC hob das Verbot für Parteien und Organisationen im Januar 2012 auf. Bis heute haben sich 36 Parteien für die Wahl im Juni registriert, darunter besonders viele islamische und religiöse Parteien. Abgesehen von den Muslimbrüdern seien sie aber schlecht organisiert, weil sie sich erst in den vergangenen Monaten hätten formieren können, sagt Wolfram Lacher von der SWP. Radikale islamistische Kräfte scheinen bisher aber noch kein großes politisches Gewicht erlangt zu haben.
Politisches Kräftemessen
Auch die Machtbalance zwischen einzelnen Städten, Stämmen, Regionen und einer Zentralregierung muss neu austariert werden. Während der Revolution sind viele lokale Machtzentren entstanden, in denen Städte und Stämme - teilweise gestützt auf lokale Milizen - um die politische und wirtschaftliche Vorherrschaft konkurrieren. Die lokalen Räte, die sich in den Städten und Regionen gebildet haben, genießen je nach Ort unterschiedlich starke Autorität. Unübersichtlich wird die Lage dadurch, dass die verschiedenen revolutionären Kräfte und Milizen zum Teil in den lokalen Räten vertreten sind, zum Teil außerhalb dieser Räte agieren und sich untereinander immer wieder bewaffnete Machtkämpfe liefern.
Die revolutionären Brigaden und andere Aktivisten der Revolution gegen Gaddafi werfen dem Übergangsrat in Tripolis vor, nicht transparent zu sein und die Verwendung der libyschen Staatsfinanzen nicht offenzulegen. Dabei geht es besonders um die Milliarden-Einnahmen aus dem Erdöl-Export. Das alles habe dazu geführt, dass der Übergangsrat und seine Regierung sich in einer Legitimitätskrise befänden, so Libyen-Experte Lacher. Daher beuge sich der Übergangsrat häufig dem Druck der revolutionären Brigaden.
Bewaffnete Auseinandersetzungen
Dem Übergangsrat ist es bisher nicht gelungen, die zahlreichen bewaffneten Gruppen und Stammesmilizen unter die zentrale Kontrolle eines Sicherheitskomitees in Tripolis zu stellen. Damit die Sicherheit des Landes und der Bevölkerung gewährleistet werden kann, müssen ein neuer Sicherheits- und Militärapparat aufgebaut und die Milizen eingegliedert oder demobilisiert werden. Sonst kommt es weiterhin zu bewaffneten Auseinandersetzungen einzelner Gruppen. Dieser Prozess der Eingliederung und Demobilisierung habe zwar bereits begonnen, so Lacher, gehe aber nur langsam voran. Denn die Milizen wollten abwarten, wie die politische Neuordnung nach den Wahlen aussieht, und ob sie davon profitieren können.
Expertise aus dem Westen?
Mittlerweile hat die Registrierung der auf 3,4 Millionen geschätzten Wahlberechtigten begonnen, sie kommt aber bisher nur schleppend voran. Es ist umstritten, ob der Westen mit Blick auf die erste demokratische Wahl in Libyen helfen kann. Einerseits sollte zwar der Westen eine Einmischung in innere Angelegenheiten vermeiden, sagt Nahost-Experte Günter Meyer. "Andererseits sollte er zuhören, in welchen Bereichen die Libyer Unterstützung benötigen: etwa wenn es um die Expertise für den Aufbau demokratischer Strukturen geht, die Beratung im Sicherheitsbereich oder den Wiederaufbau der Infrastruktur." Für faire und freie Wahlen sorgen, da sind sich die Experten einig, müssten aber in erster Linie der Übergangsrat und das libysche Volk.