Der Puls von Europa
12. Februar 2017Der Pulsschlag von Europa schnellt am Ende nochmal in die Höhe. Zum emotionalen Finale schallt die Hymne "Ode an die Freude" aus den Lautsprechern über den Goetheplatz mitten in Frankfurt. Die Pro-Europa-Demonstranten halten sich an den Händen, bilden schweigend, fast ehrfürchtig eine Menschenkette. Das ist ihr Ritual am Ende jeder Demo: Zusammenhalten für Europa.
Es ist die vierte Kundgebung von "Pulse of Europe", einer pro-europäischen Bürgerinitiative. So viele waren sie in Frankfurt noch nie: Rund 1700 Demonstranten sind es an diesem Nachmittag, schätzt die Polizei. Seit vier Wochen treffen sich die Europa-Anhänger jeden Sonntag um 14 Uhr hier am Frankfurter Goetheplatz. Inzwischen gibt es Ableger in ganz Deutschland und in Amsterdam. Eine Demonstration in Paris soll Ende Februar folgen. Sie protestieren gegen die rasante Radikalisierung Europas, aber vor allem für einen friedlichen geeinten Kontinent. "Wir sind nicht gegen etwas, sondern für etwas", lautet die Devise.
"Blijf bij ons"
Die Sorge: Dass am 15. März in den Niederlanden und am 23. April in Frankreich die Rechtspopulisten gewählt werden und Europa auseinanderbricht. "Blijf bij ons" - bleibt bei uns - lautet die solidarische Botschaft an das Nachbarland Niederlande. Die Vision: Dass bis zur Wahl in den Niederlanden jeden Sonntag möglichst viele Europäer für Europa auf die Straße gehen.
Gründer der Bewegung ist Daniel Röder. Ein promovierter Jurist in ockerfarbenem Parka, der von sich selbst sagt, er sei "kein Berufsdemonstrant". Das Brexit-Votum sei ihm noch "wie ein schlechter Traum" vorgekommen. Die Wahl Donald Trumps habe dann "sein persönliches Fass zum Überlaufen gebracht". Ihm wurde schlagartig klar: Das Unmögliche ist möglich. Und: Wir müssen für dieses Europa kämpfen. Also schrieb Röder an seine Freunde eine Mail: Lasst uns für ein vereintes Europa, für die Demokratie, gemeinsam auf die Straße gehen. Es ist die Geburtsstunde der Bürgerbewegung "Pulse of Europe".
Junge Öko-Familien und Besserverdiener
An diesem Nachmittag glitzern die Bürotürme des Frankfurter Finanzdistrikts im Hintergrund in der Wintersonne. Unter den Demonstranten sind junge Öko-Familien, Alt-68er, Studenten, ganz normale Angestellte, aber auch viele elegant gekleidete Frankfurter, die man zunächst einmal nicht auf einer Demo erwarten würde. Es sind Menschen, die das Bedürfnis eint: Höchste Zeit, endlich politisch aktiv zu werden und Europa eine öffentliche Liebeserklärung zu machen.
Da ist zum Beispiel die begeisterte Europäerin Gabriele Müller, deren Mutter als Vertriebene nach dem Krieg nach Frankfurt flüchtete. Sie hofft, dass die Menschen endlich kapieren, wie wertvoll dieses Europa ist.
Ein paar Schritte weiter steht der Maschinenbau-Student Vivian Lauzi, 23, mit seinem Vater, Helmut Lauzi, Verwaltungsangestellter, 61. "Ich will mir in ein paar Jahren nicht vorwerfen müssen, dass ich daheim auf Netflix gestreamt habe, als die EU auseinander gebrochen ist", sagt der Sohn. Europa sei keine Selbstverständlichkeit. Dem Vater geht es darum, das Friedensprojekt Europa zu bewahren.
"Make Europe Great Again" steht in dicken Filzstift-Buchstaben auf dem Plakat, das sich Anna Leszczynska wie eine überdimensionierte Halskette umgehängt hat. Sie hofft auf den "positiven Trump-Effekt". Darauf, dass die Europäer jetzt näher zusammenrücken. Die Psychotherapeutin aus Frankfurt hat polnische Wurzeln. Was in ihrem Heimatland derzeit passiert, schockiert sie: "Ich hätte nie gedacht, dass eine etablierte Demokratie so schnell einfach hinweggefegt werden kann." Die EU müsse stärker werden, um solche anti-demokratischen Entwicklungen zu stoppen.
Demonstrationszug zur Wiege der Demokratie
Nach ein paar kurzen Statements auf der Bühne ziehen die Demonstranten weiter zur Wiege der Demokratie, der symbolträchtigen Paulskirche. Hier tagte nach der Revolution 1848 das erste deutsche Nationalparlament. Bürgerliche Grundrechte der Deutschen wurden hier erstmals in einem Verfassungsentwurf formuliert.
Am Rand beobachtet eine Frau um die 50, die lieber anonym bleiben möchte, den Demonstrationszug skeptisch. Sie sei auch für Europa, sagt sie. Aber wer steckt hinter der Demo? Die vielen Luftballon mit EU-Emblem, die vielen EU-Fähnchen, die EU-Flaggen, in die sich manche hüllen - all das kommt ihr seltsam durchgestylt vor. Bürgerinitiativen sähen normalerweise chaotischer aus, findet sie. Ob am Ende nicht doch irgendwelche Parteien dahinter stecken?
Auf der Webseite heißt es: "Wir möchten betonen, dass Pulse of Europe eine Bürgerinitiative ist, die keine parteipolitischen Ziele verfolgt."
Pulse of Europe-Gründer Daniel Röder versteht die Bewegung vielmehr als eine Art Weckruf. Ja, vielleicht hätten es sich viele Deutsche zu lange zu bequem gemacht. Doch nun seien die Bürger gefragt. "Wenn die Idee Europas nicht von den Bürgern ausgeht, wird es nicht klappen", so Röder. Er hofft, dass sich in den nächsten Wochen möglichst viele Menschen den Kundgebungen anschließen. Und begeistert den Puls von Europa spüren.