Der längste Tag
15. April 2013Ich saß um kurz vor neun Uhr noch beim Frühstück in meinem Apartment in Alexandria, einem Vorort von Washington. Ich blätterte in der Zeitung. Wie in Amerika üblich lief der Fernseher in der Küche, CNN. Mit einem Auge sah ich, wie der Nachrichtensender auf das Bild der beiden markanten Türme in Manhattan ging. Einer davon brannte. Ich fragte mich, ob bald ein neuer Action-Thriller in die Kinos komme und das wohl eine Vorschau sei? Schnell merkte ich, dass die Bilder echt waren. Ich dachte, ein Sportflugzeug, ein Unfall? Mist! Da musst du heute wohl doch noch aktuelle Berichte machen. Eigentlich hatte ich ganz andere Termine.
Ich griff zum Telefonhörer und erreichte die Nachrichtenredaktion in Köln: "Ja, da ist ein Flugzeug ins World Trade Center gerast", versicherte ich dem Redakteur. Die Nachrichtenagenturen hatten noch nichts gebracht, also wurde für die 15-Uhr-Sendung schnell noch eine Meldung geschrieben. Um 15.03 Uhr wartete ich am Telefon auf meinen Auftritt in der Live-Sendung "Funkjournal". Kurz bevor die Sendung begann, sah ich fassungslos wie das zweite Flugzeug in den zweiten Turm krachte. Ein riesiges Verkehrsflugzeug! Oh mein Gott!
Ständig neue Katastrophenmeldungen
Nach einer zweiten Schalte in die laufende Sendung überlegte ich kurz vor 09.30 Uhr, wie ich herausbekommen konnte, was los war. Die Telefone der Polizei oder der Regierung waren permanent besetzt. Neben CNN ließ ich NPR, das öffentlich-rechtliche Hörfunkprogramm in den USA laufen. Dort überschlugen sich die Meldungen. Rauch über dem Weißen Haus. Autobombe vor dem Außenministerium. Dann trat in einer Schule in Florida der total erschütterte Präsident George Bush vor die Fernsehkamera und sagte, Amerika sei angegriffen worden. Terroristen.
Das deutsche Hörfunkprogramm der DW entschied sich, das Programmschema zu sprengen und einfach live weiter zu senden. Also, war ich ständig auf dem Sender, um zu berichten. Mittlerweile waren die Handy-Netze und auch das Internet ausgefallen, das damals noch in den Kinderschuhen steckte. Um vernünftig recherchieren zu können, musste ich ins Studio in der Innenstadt, nur wenige Blocks vom Weißen Haus entfernt!
Geisterstadt Washington
Die Autobahn, die von Alexandria am Verteidigungsministerium Pentagon vorbei in die Innenstadt führte, war total verstopft. Kein Unfall, nein, die Fahrer hatten angehalten, weil aus dem Pentagon schwarzer Rauch quoll und Flammen aus dem festungsartigen Gebäude schlugen. Fassungslos standen wir neben unseren Autos. Der Angriff hatte sich auch auf die US-Hauptstadt ausgedehnt. Wir wussten, es sind noch weitere entführte Flugzeuge in der Luft. Das nächste Ziel könnte das Weiße Haus oder das Kapitol, der Sitz des Parlaments, sein.
Ich wendete (illegal) auf der Autobahn und fuhr zu einem Supermarkt, an der nächsten Ausfahrt. Weil die Handy-Netze nicht funktionierten, eroberte ich einen Münzfernsprecher und setzte dort im Kassenbereich meine Berichte ab. Kunden und Kassierer hatten sich um einen Fernseher gescharrt. Niemand kaufte ein. Später am Tag wurde die ganze Innenstadt evakuiert. Es gab fast keinen Autoverkehr. Die Straßen waren leer. Eine Geisterstadt, auch dann noch als später Entwarnung kam, dass keine Flugzeuge mehr unterwegs sein. Die vierte Maschine war in Shanksville, Pennsylvania, abgestürzt.
Am späten Nachmittag ging ich vom Studio zum Weißen Haus, das hermetisch abgeriegelt war. Irgendwo unter dem Rasen saß Vizepräsident Dick Cheney im Bunker und wartete auf Präsident Bush, der erst am Abend nach Washington zurückkommen konnte. Am Zaun des Weißen Hauses traf ich ein Touristenehepaar aus Deutschland, das mich fragte, was denn hier eigentlich los sei, wo denn die ganzen Menschen seien. Die beiden hatten tatsächlich nichts mitbekommen und dachten, es wäre ein Feiertag oder so etwas ähnliches.
Für immer verändert
Für mich waren der 11. September und die Tage und Wochen, die dann folgten, eigentlich ein permanenter Arbeitstag ohne viel Schlaf. Meine amerikanischen Kollegen, Nachbarn, Freunde waren zunächst fassungslos und dann wild entschlossen, die Täter zu finden. Der Angriff auf Amerika war für sie eine gewaltige Zäsur. Als ich schildern musste, wie Menschen von den Doppeltürmen in den sicheren Tod sprangen und beim Aufprall andere Menschen mit in Tod rissen, versagte mir zum ersten Mal live auf dem Sender die Stimme. Die Tränen liefen. Das ist mir seither nicht wieder passiert. Der 11. September war sicherlich die "größte" Geschichte in meinem Reporterleben.