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Der längste Tag

7. September 2011

Thomas Nehls (WDR) und Bernd Riegert (DW) berichteten vor zehn Jahren für die Deutsche Welle aus New York und Washington. Wie haben sie den Tag der Anschläge am 11. September erlebt?

https://p.dw.com/p/12UGf

Thomas Nehls (ARD, Studio New York): Es begann kurz vor 15 Uhr deutscher Zeit. Meine Frau hatte mich am amerikanischen Morgen gegen 8:50 Uhr auf den Balkon unserer Wohnung im obersten Stockwerk eines Hauses an der 34. Straße/Ecke First Avenue in Manhattan gerufen. Von der 35. Etage aus hatte sie an jenem herbstlichen Sonnentag bei freiem Blick in Richtung Süden den Nordturm im World Trade Center brennen gesehen - genauer gesagt sein oberes Drittel. Ich wollte gerade mit dem Aufzug in die Lobby fahren und mich auf den 8-Minuten-Fußweg ins New Yorker ARD-Studio machen. Der Griff zum Telefon führte noch vor den 15 Uhr-Nachrichten in Deutschland zum ersten Radio-Bericht im WDR2-Mittagsmagazin. Auf die Frage des Moderators Manfred Erdenberger nach dem möglichen Grund für den Brand waren allerdings vor allem Spekulationen zu vernehmen.

Bernd Riegert Deutsche Welle Porträtfoto
Bernd Riegert, Korrespondent in Washington 1998-2001Bild: DW

Bernd Riegert (DW-Korrespondent Washington): Ich saß um kurz vor neun Uhr noch beim Frühstück in meinem Apartment in Alexandria, einem Vorort von Washington. Ich blätterte in der Zeitung. Wie in Amerika üblich lief der Fernseher in der Küche, CNN. Mit einem Auge sah ich, wie der Nachrichtensender auf das Bild der beiden markanten Türme in Manhattan ging. Einer davon brannte. Ich fragte mich, ob bald ein neuer Action-Thriller in die Kinos komme und das wohl eine Vorschau sei? Schnell merkte ich, dass die Bilder echt waren. Ich dachte, ein Sportflugzeug, ein Unfall? Mist! Da musst du heute wohl doch noch aktuelle Berichte machen. Eigentlich hatte ich ganz andere Termine. Ich griff zum Telefonhörer und erreichte die Nachrichtenredaktion in Köln: Ja, da ist ein Flugzeug ins World Trade Center gerast, versicherte ich dem Redakteur. Die Nachrichtenagenturen hatten noch nichts gebracht, also wurde für die 15-Uhr-Sendung schnell noch eine Meldung geschrieben. Um 15.03 Uhr wartete ich am Telefon auf meinen Auftritt in der Live-Sendung "Funkjournal". Kurz bevor die Sendung begann, sah ich fassungslos wie das zweite Flugzeug in den zweiten Turm krachte. Ein riesiges Verkehrsflugzeug! Oh mein Gott!

Thomas Nehls aus dem ARD Hauptstadtstudio Berlin Quelle: privat Rechte geklärt
Thomas Nehls auf seinem Balkon am 11.09.2001Bild: privat/Thomas Nehls

Brennende Türme, zusammenbrechende Telefonnetze

Thomas Nehls (New York): Noch oder schon wieder auf dem Sender, sah ich: Das zweite Flugzeug war in den Südturm gerast und hatte dessen Glas-Stahl-Körper diagonal aufgeschlitzt. In diesen Momenten hoffte ich auf zweierlei: Dass nicht ein weiteres Flugzeug nun in das von uns nur etwa 600-700 Meter entfernte Empire State Building fliegen würde und dass unser Festnetz-Anschluss durchhalten möge - und nicht, wie bereits beim Handy, die telefonische Kommunikation im Keim erstickt würde. Beide Wünsche gingen in Erfüllung.

Erst zweieinhalb Stunden nach den Anschlägen, also nach 11 Uhr verließ ich meine "Dauersprechstelle" auf dem Balkon und machte mich auf den Weg ins ARD-Studio. Dort hatte mein Radio-Kollege Carsten Vick den ersten Berichtsmarathon hinter sich. Der Fernseh-Mannschaft hingegen fehlte der Korrespondent. Er war in Kanada gestrandet, genauer in Edmonton, und konnte nicht umgehend zurückfliegen, weil der Luftraum über New York längst großflächig gesperrt worden war.

New Yorkers look on as the south tower of the World Trace Centers collapses. The terrorist attack on the World Trade Center in New York City on Sept 11th 2002, made by flying two passenger planes into both towers and hereby collapsing them, cost more than 3400 lives. The picture is part of the Exhibition "Here is New York", a collection of professionel and amateur pictures from Sept 11th, on show in Berlin, Germany, August 2002
New Yorker beobachten den Einsturz des Nordturms, Fotoausstellung "Here is New York", 2002

Bernd Riegert (Washington): Nach einer zweiten Schalte in die laufende Sendung überlegte ich kurz vor 09.30 Uhr, wie ich herausbekommen konnte, was los war. Die Telefone der Polizei oder der Regierung waren permanent besetzt. Neben CNN ließ ich NPR, das öffentlich-rechtliche Hörfunkprogramm in den USA laufen. Dort überschlugen sich die Meldungen. Rauch über dem Weißen Haus. Autobombe vor dem Außenministerium. Dann trat in einer Schule in Florida der total erschütterte Präsident George Bush vor die Fernsehkamera und sagte, Amerika sei angegriffen worden. Terroristen. Das deutsche Hörfunkprogramm der DW entschied sich, das Programmschema zu sprengen und einfach live weiter zu senden. Also, war ich ständig auf dem Sender, um zu berichten. Mittlerweile waren die Handy-Netze und auch das Internet ausgefallen, das damals noch in den Kinderschuhen steckte. Um vernünftig recherchieren zu können, musste ich ins Studio in der Innenstadt, nur wenige Blocks vom Weißen Haus entfernt!

"Angriff auf Amerika"

Thomas Nehls (New York): New Yorks Bürgermeister Rudolph Giuliani, stets eingerahmt mindestens vom Polizeipräsidenten und vom Feuerwehrboss, gab - gefühlt stündlich - Statements ab, aus den eingestürzten Türmen rechtzeitig davon Gekommene äußerten sich zu ihrer Rettung - in den US-Radio- und Fernsehprogrammen "hagelte" es vom ersten Moment an Vermutungen, Analyse-Versuche, auch schon Beschuldigungen, Kritik und Vorwürfe aller Art. Für eigene Recherchen war zunächst keine Zeit - zumal umgehend die Straßen und später ganze Viertel um Ground Zero herum hermetisch abgeriegelt wurden. Nachhaltig bis heute die Eindrücke an zwei Orten, die zumindest für Journalisten erreichbar waren. An einer Stelle war man freilich fast allein; man traf in den Krankenhäusern Manhattans zwar zuhauf Ärzte und Schwestern, aber kaum Patienten an: Die der Trümmerlandschaft entkamen, bedurften erstaunlicherweise nur selten ärztlicher Hilfe und wollten nur noch nach Hause; für die fast 3000 anderen war es ohnehin zu spät. Der andere Ort war die kleine St. Paul's Kapelle, die in unmittelbarer Nähe des World Trade Centers unversehrt geblieben war und als Rückzugsort für übermüdete Feuerwehrleute und andere Helfer diente. Einst war ihr Standort an der Südspitze Manhattans ein Feld in Hafennähe. Das 1776 erbaute Gotteshäuschen sollte allen Trost spenden, die fern der Heimat waren. Der Zufluchtsort galt schon damals als "Kapelle der Erleichterung". Noch Wochen nach der Katastrophe war der kleine Garten der Anlage von dickem Staub und Betonbrocken bedeckt. Der Eingangsbereich war übersät von Fotos Vermisster, die später für tot erklärt werden mussten, von Helmen und Gürteln gestorbener "firefighters" und den Mitbringseln der ersten "Ground-Zero-Pilger"; letztere kamen aus dem ganzen Land auch, um zu helfen und sich an Aufräumungsarbeiten zu beteiligen. Doch dafür war längst schweres Baugerät zur Stelle. Und die Feinarbeit hatten Forensiker übernommen. Sie suchten monatelang das Areal auf Anhaltspunkte ab, die ihnen die Identifizierung der Toten erleichtern konnten.

FILE - In this Tuesday, Sept. 11, 2001 file photo, Chief of Staff Andy Card whispers into the ear of President George W. Bush to give him word of the plane crashes into the World Trade Center, during a visit to the Emma E. Booker Elementary School in Sarasota, Fla. (AP Photo/Doug Mills)
Ungläubig in der Grundschule in Florida: Präsident Bush erfährt von den AnschlägenBild: AP

Geisterstadt Washington

Bernd Riegert (Washington): Die Autobahn, die von Alexandria am Verteidigungsministerium Pentagon vorbei in die Innenstadt führte, war total verstopft. Kein Unfall, nein die Fahrer hatten angehalten, weil aus dem Pentagon schwarzer Rauch quoll und Flammen aus dem festungsartigen Gebäude schlugen. Fassungslos standen wir neben unseren Autos. Der Angriff hatte sich auch auf die US-Hauptstadt ausgedehnt. Wir wussten, es sind noch weitere entführte Flugzeuge in der Luft. Das nächste Ziel könnte das Weiße Haus oder das Kapitol, der Sitz des Parlaments, sein. Ich wendete (illegal) auf der Autobahn und fuhr zu einem Supermarkt, an der nächsten Ausfahrt. Weil die Handy-Netze nicht funktionierten, eroberte ich einen Münzfernsprecher und setzte dort im Kassenbereich meine Berichte ab. Kunden und Kassierer hatten sich um einen Fernseher gescharrt. Niemand kaufte ein. Später am Tag wurde die ganze Innenstadt evakuiert. Es gab fast keinen Autoverkehr. Die Straßen waren leer. Eine Geisterstadt, auch dann noch als später Entwarnung kam, dass keine Flugzeuge mehr unterwegs sein. Die vierte Maschine war in Shanksville, Pennsylvania, abgestürzt. Am späten Nachmittag ging ich vom Studio zum Weißen Haus, das hermetisch abgeriegelt war. Irgendwo unter dem Rasen saß Vizepräsident Dick Cheney im Bunker und wartete auf Präsident Bush, der erst am Abend nach Washington zurückkommen konnte. Am Zaun des Weißen Hauses traf ich ein Touristenehepaar aus Deutschland, das mich fragte, was denn hier eigentlich los sei, wo denn die ganzen Menschen seien. Die beiden hatten tatsächlich nichts mitbekommen und dachten, es wäre ein Feiertag oder so etwas ähnliches.

Federal Bureau of Investigation investigators comb the crater left by the crash Tuesday of United Airlines flight 93, a Boeing 757 in Shanksville, Pa., on Wednesday, Sept. 12, 2001. The plane crashed about 80 miles southeast of Pittsburgh after first flying near Cleveland and then turning around. The plane was said to be flying erratically and losing altitude. Analysts said recovery of Flight 93's cockpit voice recorder could be key in determining what happened. FBI assistant agent in charge Roland Corvington said that more than 200 investigators were on the scene and that the search might continue for three to five weeks.(AP Photo/Gene J. Puskar)
Absturzstelle von Flug U 93 in Shanksville, PennsylvaniaBild: AP

Für immer verändert

Thomas Nehls (New York): Zur Tagesordnung übergegangen ist die Berichterstattung in der für mich faszinierendsten Stadt der Welt auch zehn Jahre danach noch nicht. Natürlich wird "9/11" nicht erwähnt, wenn die Wall Street das Thema ist, die Vereinten Nationen ihre Aktivitäten darstellen oder die N.Y.-Fashion-Week ihre Tore öffnet. Spätestens jedoch in Reports über den Arbeitsmarkt und die Immobilienbranche fehlt selten die neue Zeitrechnung: before or after - vor oder nach 9/11. Schließlich markiert jener sonnig begonnene September-Tag auch eine Wende in New Yorks Dasein als einem der weltweit wichtigsten Touristenziele. Nicht, dass niemand mehr käme; die Anziehungskraft der auch gern als Mythos geltenden Metropole ist ungebrochen. Allerdings nicht mehr ihre Gelassenheit. Dafür sorgen schon die sich häufig martialisch gebenden Polizisten und anderen allgegenwärtigen Sicherheitskräfte. (...) Es ist in den vergangenen zehn Jahren dabei geblieben: Die beruflichen Strapazen in den Stunden, Tagen und Wochen nach dem 11. September 2001 sind durch nichts und zu keiner Zeit übertroffen oder auch nur eingeholt worden.

Bernd Riegert (Washington): Für mich waren der 11. September und die Tage und Wochen, die dann folgten, eigentlich ein permanenter Arbeitstag ohne viel Schlaf. Meine amerikanischen Kollegen, Nachbarn, Freunde waren zunächst fassungslos und dann wild entschlossen, die Täter zu finden. Der Angriff auf Amerika war für sie eine gewaltige Zäsur. Als ich schildern musste, wie Menschen von den Doppeltürmen in den sicheren Tod sprangen und beim Aufprall andere Menschen mit in Tod rissen, versagte mir zum ersten Mal live auf dem Sender die Stimme. Die Tränen liefen. Das ist mir seither nicht wieder passiert. Der 11. September war sicherlich die "größte" Geschichte in meinem Reporterleben.

Autoren: Thomas Nehls, Bernd Riegert
Redaktion: Daniel Scheschkewitz