Der Lieblingsfilm der Kanzlerin
13. Mai 2013Auf den ersten Blick schildert "Die Legende von Paul und Paula" einfach eine Liebesgeschichte. Doch schon die Premiere des Werks von Drehbuchautor Ulrich Plenzdorf und Regisseur Heiner Carow im Berliner Kosmos Kino am 29. März 1973 zeigte die explosive Kraft des legendären Films.
In der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) war Erich Honecker zwei Jahre zuvor zum ersten Sekretär der Regierungspartei Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) ernannt worden. Mit ihm erhofften sich viele Menschen wirtschaftlichen Fortschritt, vor allem aber auch eine Öffnung des Landes hin zu mehr Freiheit. Honecker hatte zwar "Die Legende von Paul und Paula" vor der Premiere gesehen und freigegeben, doch die erste Vorstellung des vom staatseigenen Filmunternehmen produzierten Streifens verlief chaotisch, erinnerte sich der 1997 verstorbene Heiner Carow: "In das Kino passten 1.200 Besucher. 800 von ihnen waren von der Partei ausgesuchte linientreue Repräsentanten. Die anderen 400 Karten wurden frei verkauft. Am Ende des Films herrschte eisiges Schweigen. Dann verließ der Berliner Stadtrat für Kultur den Saal und schmiss die Türen hinter sich zu. Kaum war er draußen, begannen 400 Leute wie wild zu klatschen, etwa 20 Minuten lang. Während die anderen 800 wie versteinert sitzen blieben und keine Miene verzogen".
Das Alte wird gesprengt
Wer diese Reaktionen heute verstehen will, muss sich mit der DDR und ihren Realitäten vertraut machen. "Die Legende von Paul und Paula" fasziniert bis heute, weil fast jede Szene auf verschiedene Weise gedeutet werden kann. Bereits im Vorspann – und auch später im Film – werden alte Häuser gesprengt. Wobei jeweils die Musik unterbrochen wird. Gerade lange genug, um zumindest zu zweifeln, ob das, was da neu gebaut wird, wirklich besser ist. In diesen Umbruchzeiten, in einem nicht näher definierten Viertel von Ost-Berlin, lernen sich Paula (Angelica Domröse) und Paul (Winfried Glatzeder) kennen. Paul ist unglücklich verheiratet, hat einen fünfjährigen Sohn und wohnt im Haus gegenüber von Paula. Die wiederum lebt alleinstehend mit ihren beiden Kindern zusammen. Die beiden lernen sich in einer Disco kennen und verbringen eine gemeinsame Nacht in einer Garage, in der Paul ein altes Auto aufbaut.
"Ich kann mir keine Scheidungsgeschichte leisten"
Während es für Paula die große Liebe ist, bleibt Paul unentschlossen. Zwar genießt er die Momente mit Paula sehr, aber er ist nicht bereit, seine Ehe und seine Privilegien aufzugeben. Da er ein Partei-Funktionär ist, wird von ihm eine "geregelte Lebensführung" erwartet. "Ich kann mir keine Scheidungsgeschichte leisten in meiner Funktion. Es gibt da zwar keine Dienstvorschrift, aber es ist so!" Paul will seine Karriere schützen. Und erst als Paula ihren Sohn durch einen Unfall verliert und sie sich daraufhin von ihm distanziert, spürt er die Tiefe seiner Liebe zu ihr und beginnt, um sie zu kämpfen.
Eine Geschichte, die nicht nur Angela Merkel, sondern auch Regisseur Andreas Dresen begeistert: "Ich kann mich an keinen anderen DEFA-Film erinnern, in dem die Stasi auftritt." Dresen ist 1963 in Gera geboren. Die Deutsche Filmakademie in Berlin hat ihn eingeladen, um mit der ebenfalls in der ehemaligen DDR aufgewachsenen Angela Merkel über den Film zu sprechen.
Als der Film heraus kam, war die Bundeskanzlerin gerade 18 Jahre alt. Sie hatte im Sommer 1973 ihr Abitur gemacht und studierte nun in Leipzig Physik. Obgleich "Die Legende von Paul und Paula" durch die Musik der Puhdys geprägt ist, die damit zugleich ihren Durchbruch feierten, räumt die Kanzlerin ein, einen etwas anderen Musikgeschmack gehabt zu haben: "In dieser Zeit habe ich gern die Musik der Beatles und der Stones gehört oder Lieder wie ’Je t´aime’ oder ’Bridge over troubled water’." Überwältigt war Angela Merkel von der Mischung aus Realität und Poesie, auch wenn sie persönlich "kein eigenes Liebeserlebnis" mit dem Film verbindet.
Anarchistische Momente
Und immer wieder holt der Film den DDR-Alltag auf die Leinwand: Als Paula eine Kohlenlieferung bekommt, muss sie die Kohlen allein mit Eimern in den Keller tragen. Angela Merkel: "Erst musste man jammern, um die Kohlen zu bekommen, dann bekam man sie vor die Tür geworfen. Und dann musste man sie in den Keller tragen, wo das Wasser stand oder die Ratten umherliefen. Das war natürlich nicht so schön".
Den Parteifunktionären der SED war vor allen Dingen die Lebenseinstellung von Paula zuwider: Fernab vom großen Arbeiterklassenbewusstsein sucht sie ihr persönliches Glück durch die Hingabe zur Liebe. Wenn sie Paul, als er von der Armee kommt, im weißen, fast durchsichtigen Unterhemdchen empfängt, seinen Kopf mit einem Blumenkranz schmückt und sich mit ihm auf ein Bett voller Blumen legt, ist die Hippie-Romanze beinahe perfekt. Für Andreas Dresen gab es aber noch andere anarchistische Moment im Film: "Und dann schlägt Paul später gar mit der Axt die Tür von Paula ein. Die Liebe setzt sich gegen kleinbürgerliche Lebensentwürfe durch. Es ist bunt, voller Blumen und Rockmusik. Sogar Drogen werden angedeutet". Durch ihren kompromisslosen Willen, glücklich zu sein, wird Paula zu einer Identifikationsfigur. Drei Millionen Zuschauer sahen "Die Legende von Paul und Paula" im Kino. Der Streifen wurde einer der erfolgreichsten DEFA-Filme, die in der DDR entstanden.
Das brutale Ende
Besonders gefällt Angela Merkel das "Abwandern ins Surreale": Im Film fahren Paul und Paula beispielsweise in ihrem Bett liegend auf einem Boot über die Spree. Wobei sich mehrere Generationen ihrer Verwandten um sie herum versammeln. "Man ist einerseits entrückt und dann auch wieder ganz nah an der Realität", meint Merkel. Brutal empfand die Bundeskanzlerin dann das Ende des Films: Paula stirbt bei der Geburt des gemeinsamen Kindes.
Brutal war aber auch die Realität nachdem "Die Legende von Paul und Paula" herauskam. Drei Jahre später, 1976, wurde der Liedermacher Wolf Biermann der DDR verwiesen. Auf einem Konzert in Köln kritisierte er die DDR – wegen "grober Verletzung der staatsbürgerlichen Pflichten" wurde er ausgebürgert. Mit ihm verschwand die Hoffnung, dass die DDR sich verändern könne und weltoffener werden würde. Künstler und Intellektuelle der DDR protestierten gegen die Ausweisung Biermanns, sie verfassten ein offizielles Gesuch. Angelica Domröse hat damals die Paula gespielt. Sie unterschrieb die Petition und landete auf dem künstlerischen Abstellgleis. 1980 siedelte sie mit ihrem Ehemann Hilmar Thate in die Bundesrepublik. Und Winfried Glatzeder, der Paul gespielt hat, wurde 1982 ausgebürgert, nachdem er mehrere Ausreisanträge gestellt hatte. "Die Legende von Paul und Paula" wurde fortan in der DDR nicht mehr im Fernsehen gezeigt.