Der König und die Loya Dschirga
9. Juni 2002Für Mohammed Sahir Schah dürfte es ein sehr bewegender Moment werden, wenn er am kommenden Montag (10. Juni) in Kabul offiziell die Eröffnungs-Ansprache der "Loja Dschirga" halten wird, der großen Stammes- und Volksversammlung Afghanistans. Vor 38 Jahren hatte Sahir Schah dies zum letzten Mal getan - 1964. Damals war der heute 88-jährige noch König von Afghanistan. Und er hatte die Vertreter der verschiedenen Stämme und Ethnien in die Hauptstadt gerufen, um sich ihrer Hilfe und Unterstützung zu versichern: Im Land war eine neue Verfassung verabschiedet worden und man schien am Beginn einer freieren Zeit zu stehen.
Das geschah zum zweiten Mal nach der Zeit des (besonders in Deutschland beliebten) König Amanullah, der 1929 von konservativen Kräften als zu modern gestürzt worden war. 1933 war Sahir Schah König geworden. Er tat sich nicht gerade durch liberales Herrschen hervor. Der neuen Verfassung nach dem Krieg stimmte er wohl nur mißmutig zu. Die Zeiten hatten sich geändert, auch in Afghanistan. Der eigene königliche Reformversuch kam aber bereits zu spät: Unruhen brachen aus und 1973 musste Sahir Schah das Land verlassen.
Verklärter Blick zurück in schwerer Zeit
Aus dem römischen Exil ist er erst vor einigen Wochen zurückgekehrt, denn in Afghanistan soll ein neuer Anfang gemacht werden, der König als Symbolfigur mit dabei sein. Das Land hat in den letzten 23 Jahren so viel Negatives erlebt, dass die absolutistische Herrschaft des Exilkönigs vielen Afghanen plötzlich in der Erinnerung als eine wunderbare Zeit erschien. Sonst hätte man Sahir Schah sicher nicht zurückgebeten. Aber Afghanistan braucht jetzt politische Integrationsfiguren, wenn es überhaupt eine Chance haben soll, wieder zu einem geeinten Land zu werden.
Vielleicht gibt es überhaupt jetzt zum ersten Mal die Chance auf eine nationale Einigung. Denn Afghanistan zeichnet sich historisch dadurch aus, dass die Macht der Zentralregierung - und ebenso lange Zeit die des Königs - auf die Hauptstadt Kabul beschränkt war. Wer in Kabul herrschte, musste sich die Stammesfürsten und lokalen "war lords" in den verschiedenen Gegenden und Provinzen des Landes mit Aufmerksamkeiten und Privilegien gefügig und ergeben machen.
Den letzten Versuch, dieses System zu ändern, hatten die Taliban unternommen, indem sie versuchten, all die örtlichen und regionalen Herrscher auszuschalten. Was ihnen ja auch weitgehend gelang – hätten sie nicht ihre ebenso mittelalterliche wie pseudo-islamische Gesellschaftsordnung erzwungen und damit ihr eigenes politisches Ende heraufbeschworen.
Der Neuanfang findet nun unter völlig neuen und durchaus ermutigenden Vorzeichen statt: Die Afghanistan-Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn hatte Ende 2001 beschlossen, dass sich binnen eines halben Jahres Vertreter aller Afghanen mit Hilfe der Vereinten Nationen zu einer Loja Dschirga zusammenfinden und darüber beraten sollten, wer für die kommenden zwei Jahre eine Übergangsregierung bilden und das Land in eine demokratische und freiheitliche, vor allem aber friedliche Zukunft hinüberführen soll.
Fein ausgewogenes Procedere
Schon im Februar war eine Kommission gebildet worden, die die Modalitäten für diese erste große Stammesversammlung (seit 1987) festzulegen begann. Keine leichte Aufgabe, denn das kriegsmüde Land kann ebensowenig mit anderen Staaten verglichen werden wie die Loja Dschirga mit Wahlen in einer Demokratie. Zwar hat diese aus einer alten paschtunischen Tradition abgeleitete Versammlung etwas Basisdemokratisches an sich, es ist aber dennoch in vielerlei Hinsicht auch wieder ganz anders.
So wurden seit Mitte April in allen Teilen Afghanistans die Delegierten für die Versammlung bestimmt. Von den 1450 Delegierten wurden rund 1000 über Wahlmänner gewählt und rund 500 wurden beispielsweise von Berufsverbänden ernannt. 160 Delegiertensitze, knapp elf Prozent, sind Frauen vorbehalten. Nach der frauenfeindlichen Politik der Taliban ist das sicher ein Fortschritt, aber noch weit von dem entfernt, was man sich in progressiven afghanischen Frauenorganisationen und vor allem im Ausland vorgestellt hatte.
Nur wenige Probleme im Vorfeld
Die Kandidaten mussten erklären, dass sie weder gekauft waren noch dass sie sich in der Vergangenheit etwas haben zuschulden kommen lassen. Sie mussten auch eine Erklärung unterschreiben, dass sie die Prinzipien der Bonner Vereinbarung akzeptieren. Der Wortlaut: "Ich habe keine Verbindung zu Terrorgruppen, ich bin nicht an der Verbreitung oder dem Schmuggel von Drogen beteiligt, nicht an Verstößen gegen die Menbschenrechte, Kriegsverbrechen, Plünderungen, dem Schmuggel von archäologischem und kulturellem Erbe und bin weder direkt noch indirekt an der Tötung unschuldiger Zivilisten beteiligt gewesen."
Ohne Unregelmäßigkeiten ging es dabei natürlich nicht ab. So versuchten insbesonders die Regionalherrscher in verschiedenen Gegenden, Kandidaten einzuschüchtern und ihre eigenen Leute durchzusetzen. Wo dies auffiel, da ernannte die Wahlkommission daraufhin selbst die Delegierten. Dennoch kam es zu vereinzelten Zwischenfällen, bei denen mindestens ein Kandidat umgebracht und zahlreiche andere auf dem Weg nach Kabul aufgehalten und schikaniert wurden.
Die Delegierten der Loja Dschirga sollen sechs Tage lang beraten und debattieren. Im Gegensatz zu westlichen Wahlen wird nicht eine Mehrheit entscheiden, sondern es muss ein einstimmiger Beschluss gefällt werden. Beobachter sind sich sicher, dass dieser Beschluss zu Gunsten von Hamid Karsai ausfällt, dem Chef der bisherigen Interims-Verwaltung, die Ende Dezember ihre Arbeit aufnahm. Der Paschtune Karsai hat die Rückendeckung der USA, diverse Stammesführer haben ihm bereits ihre Unterstützung zugesagt und er genießt das Vertrauen von Ex-König Sahir Schah.
Der greise Ex-Monarch hat keine Ambitionen, in Amt und Würden zurückzukehren. Auf jeden Fall nicht als König. Afghanistan wird also nicht erneute eine Monarchie werden und wenn es überhaupt einen Posten für den alten Mann geben sollte, dann vielleicht den rein repräsentativen eines Staatspräsidenten.