Der kasachische Winter
26. Dezember 2011Noch ist der genaue Hergang der Ereignisse unklar, aber dass die Feier zum 20. Jahrestag der Unabhängigkeit Kasachstans in blutige Proteste mündete, alarmiert kasachische Führung und westliche Beobachter gleichermaßen. Wie im Internet veröffentlichte Videos nahelegen, waren es Ölarbeiter, die am 16. Dezember mit der Stürmung einer Feierbühne in der west-kasachischen Stadt Schanaosen den Startschuss für die Unruhen gaben.
Nachdem Polizisten mit scharfer Munition auf Demonstranten geschossen hatten, griffen die Proteste innerhalb kurzer Zeit auf die ganze Stadt über - Rathaus und der Sitz einer Ölfirma gingen in Flammen auf. Mindestens 16 Menschen sollen im Laufe der Unruhen, die sich später auch auf weitere Städte ausbreiteten, ums Leben gekommen sein - russische Journalisten sprechen sogar von mehr als 70 Toten.
Nasarbajew regiert mit eiserner Hand
Eine solche Gewalteskalation hat Kasachstan bislang noch nicht erlebt, obwohl der 16-Millionen-Einwohner-Staat von Präsident Nursultan Nasarbajew seit zwei Jahrzehnten autoritär geführt wird. Warum sich genau die Stimmung zum Unabhängigkeitstag derart aufgeheizt hat, lässt auch viele Beobachter rätseln. Klar scheint allerdings, dass das Regime die Sprengkraft der Ölarbeiterproteste im Westen des Landes unterschätzt hatte. Seit Mai waren tausende Ölarbeiter von Schanaosen immer wieder für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen auf die Straße gegangen - hielten monatelang den zentralen Platz der Stadt besetzt. Doch statt mit den Arbeitern zu verhandeln, reagierten die beteiligten Unternehmen und die Regierung mit kompromissloser Härte. Mehr als 1000 Ölarbeiter wurden entlassen.
Verschwörungstheorien im Internet
Offiziell sieht die Regierung keine direkte Verbindung zwischen den Streikenden und den blutigen Unruhen. Nasarbajew machte im kasachischen Fernsehen "Banditen" für die Ausschreitungen verantwortlich. Sie hätten den Arbeitskonflikt der Ölarbeiter ausgenutzt. Das ist allerdings nicht die einzige Erklärung für die Dezember-Ereignisse: In kasachischen Internetforen ist von einer möglichen Verantwortung ausländischer Geheimdienste die Rede und Nasarbajew-Kritiker fragen, ob das Regime nicht selbst die Unruhen orchestriert haben könnte. Die Zentralasien-Forscherin Beate Eschment hält wenig von diesen Theorien. Für sie ist klar, dass die Führung, die es all die Jahre verstanden hatte, Konflikte frühzeitig zu entschärfen, von dem Gewaltausbruch überrascht wurde. "Das ist ein absolutes Warnzeichen", konstatiert die Wissenschaftlerin von der Bremer Forschungsstelle Osteuropa.
Für den Moment hat das Regime die Lage aber offenbar wieder unter Kontrolle. Bei einem Besuch der Unruheregion versprach der Präsident den Angehörigen der Opfer finanzielle Unterstützung. Außerdem sollen die Vereinten Nationen bei der Untersuchung der Ereignisse helfen. Ein klares politisches Signal sandte Nasarbajew auch mit der Entlassung seines Schwiegersohns Tibur Kulibajew. Der 45 Jahre alte Politiker galt als potentieller Nachfolger Nasarbajews und stand bislang dem mächtigen Nationalen Fonds "Samruk-Kasyna" vor, der die kasachische Energiebranche kontrolliert und mehr als die Hälfte des nationalen Bruttoinlandsprodukts umsetzt. Kulibajew muss als Reaktion auf die Proteste in seinem Verantwortungsbereich zusammen mit anderen Managern diverser Tochterunternehmen seinen Hut nehmen.
Kasachstan als stabiler Pol Zentralasiens
Auch wenn Zeitpunkt und Intensität der Proteste in Westkasachstan überraschen, geht die Zentralasien-Forscherin Eschment nicht davon aus, dass der Funke auf andere Landesteile überschwappen könnte. "Da wird es keine Solidarität in größerem Maße geben." Trotzdem könnte der Druck auf den 71 Jahre alten Dauerherrscher Nasarbajew weiter zunehmen. Sein "Gesellschaftsvertrag", der Teilhabe am wirtschaftlichen Erfolg des ressourcenreichen Landes gegen den Verzicht auf politische Mitsprache knüpft, komme jetzt an seine Grenzen, glaubt Andrea Schmitz von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik: "Den Ölarbeitern in Westkasachstan wurde beides verweigert, und die Gewalt in Schanaosen macht nicht nur das offenkundig, sie entlarvt auch den 'Gesellschaftsvertrag' als falschen Schein." Noch allerdings sehen die meisten Experten keine Anzeichen für eine revolutionäre Dynamik vergleichbar mit der des Arabischen Frühlings.
In den kommenden Tagen wird es vor allem darauf ankommen, wie sich die Lage nach dem 5. Januar entwickelt, wenn in Schanaosen der vom Präsidenten verhängte Ausnahmezustand aufgehoben werden soll. Zehn Tage später könnten die Parlamentswahlen im Land einen neuen Anlass für Proteste bieten.
Autor: Andreas Noll
Redaktion: Friedel Taube