Umstrittene Vorratsdatenspeicherung
2. März 2010Die höchste richterliche Instanz in Deutschland, das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, wird an diesem Dienstag (02.03.2010) ein wegweisendes Urteil zum Datenschutz sprechen. Es geht um die Ende 2007 vom Bundestag beschlossene sogenannte Vorratsdatenspeicherung. Die damals regierenden Konservativen und Sozialdemokraten setzten gegen die Stimmen der damaligen Opposition (Freidemokraten, Grüne, Linke) eine Antiterror-Richtlinie der Europäischen Union um.
35.000 Bürger klagen
Dem Gesetz nach müssen mindestens sechs Monate lang sämtliche Verbindungsdaten erfasst und gespeichert werden, die per Telefon, E-Mail und Internet zustande kommen - und zwar verdachtsunabhängig.
Gegen diese Vorratsdatenspeicherung klagen fast 35.000 Bürger, darunter zahlreiche Politiker. Es ist die größte deutsche Massenklage gegen die Einschränkung von Bürger- und Freiheitsrechten. Kaum war das Gesetz verabschiedet, reichten Gegner der Vorratsdatenspeicherung Klage vor dem Bundesverfassungsgericht ein. Unter ihnen Freidemokrat und Anwalt Gerhart Baum, der als Innenminister von 1978 bis 1982 mit dem deutschen Linksterrorismus der Roten Armee Fraktion (RAF) konfrontiert war. Er weiß also aus eigener Erfahrung, wie schwierig das Spannungsfeld zwischen Sicherheitsbedürfnis und Wahrung der Freiheitsrechte ist.
Ex-Minister: "Über das Ziel hinausgeschossen"
Im Falle der Vorratsdatenspeicherung habe der Staat überzogen und sei bei der Umsetzung der EU-Richtlinie zur Terror-Bekämpfung über das Ziel hinausgeschossen, begründete Baum seine Klage. Die Richtlinie sei nicht strikt befolgt worden, sondern der deutsche Gesetzgeber beziehe auch Straftaten ein, die keinen terroristischen Hintergrund hätten. "Der Staat hat die Schwelle sehr niedrig gelegt, und auch der Zugriff ist sehr erleichtert worden", kritisiert Baum.
Der Ex-Minister und seine Mitstreiter hatten Erfolg, wenn auch zunächst eingeschränkt und vorläufig. Denn die Richter des Bundesverfassungsgerichts schränkten die Anwendung der Vorratsdatenspeicherung im März 2008 per einstweiliger Anordnung stark ein. Demnach ist sie nur bei besonders schweren Straftaten wie Mord oder Kinderpornografie erlaubt.
"Stoppt den Überwachungswahn!"
Mit diesem Teilerfolg gaben sich die zahlreichen Gegner des Gesetzes allerdings keinesfalls zufrieden. Schon vorher hatten sich deutschlandweit Bürger dem "Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung" angeschlossen. Höhepunkt der Aktionen war eine Demonstration im September 2009 in Berlin mit mehr als 10.000 Teilnehmern. Das Motto der Veranstaltung lautete: "Stoppt den Überwachungswahn!". Der Protest stand unter dem Eindruck zahlreicher Datenschutz-Skandale in den Monaten zuvor.
Unter den zahlreichen Rednern war Frank Bsirske, Chef der einflussreichen und mitgliederstarken Dienstleistungsgewerkschaft "Verdi". "Mit dem Einsatz der Informations- und Kommunikationstechnik ist der Kontrollwahn ausgebrochen in Staat, Wirtschaft und Arbeitswelt", wetterte Bsirske.
Gegner sitzen auf der Regierungsbank
Zu den heftigsten Kritikern der Vorratsdatenspeicherung gehört der Freidemokrat und frühere Staatsanwalt Max Stadler. Als Oppositionspolitiker bezeichnete er das Gesetz kurz vor der Bundestagswahl im September 2009 als "schlimmste" Verletzung von Bürger- und Freiheitsrechten. Es handele sich um Daten von völlig unverdächtigen Menschen, und das sei etwas Neues. "Denn früher durfte der Staat nur in die Privatsphäre eingreifen, wenn es konkrete Verdachtsmomente gab", betonte Stadler.
Nach dem Wahlsieg der Konservativen und Freidemokraten wurde Stadler Staatssekretär im Justizministerium, das von seiner Parteifreundin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger geleitet wird. Zu Oppositionszeiten hatte sie selbst Klage gegen die Vorratsdatenspeicherung eingereicht - eine bizarre Situation, denn als Ministerin steht die Politikerin nun auf Seiten der Beklagten, der Regierung.
Chaos Computer Club warnt vor Nebenwirkungen
Welche Gefahren aus Sicht der Gegner von dem Gesetz ausgehen, darauf weist der Chaos Computer Club hin, dessen Fachwissen mitunter bei Anhörungen des Deutschen Bundestags in Anspruch genommen wird. Constanze Kurz ist Mitglied dieses Vereins und beschreibt, welche Nebenwirkungen allein der Gebrauch von Mobil-Telefonen haben kann. "Mobil-Telefone sind Ortungswanzen, die man in der Hosentasche hat. Dadurch besteht für den Staat die Möglichkeit, über sechs Monate lang ein komplettes Bewegungsprofil zu erstellen", beschreibt sie die technischen Möglichkeiten. So ließen sich alle Kontakte erfassen und man könne eine präzise Analyse über das Sozialverhalten jedes einzelnen treffen.
"Was haben die Anti-Terror-Gesetze gebracht?"
Keine Gnade findet die Vorratsdatenspeicherung auch bei Datenschützern, die von Amts wegen mit der Materie befasst sind. Peter Schaar, der vom Bundestag gewählte Datenschutzbeauftragte der Bundesregierung, fordert eine grundsätzliche Überprüfung aller sogenannten Sicherheitsgesetze, die nach den Terror-Anschlägen vom 11. September 2001 erlassen wurden. "Was haben die Gesetze gebracht, wie tief haben sie in die Privatsphäre eingegriffen und wie effektiv waren sie?", will Schaar wissen.
Bei der anlasslosen und verdachtsunabhängigen Vorratsdatenspeicherung über sechs Monate geht es im Kern um die Frage, ob sie mit dem Fernmeldegeheimnis vereinbar ist. So formulierte es der Vorsitzende Richter, Hans-Jürgen Papier, bei der mündlichen Verhandlung der Klage im Dezember 2009. Das Urteil wird Papiers letzter Richterspruch sein. Danach geht in den Ruhestand.
Autor: Marcel Fürstenau
Redaktion: Kay-Alexander Scholz