Neugierig auf Inszenierung
22. Mai 2012Olga Grjasnowa ist in Baku geboren und im Kaukasus aufgewachsen. 1996 kam die inzwischen 27-jährige mit ihren Eltern nach Deutschland. Zur Zeit lebt und arbeitet sie in Berlin. Im Januar dieses Jahres wurde ihr vielbeachteter Debütroman "Der Russe ist einer, der Birken liebt" veröffentlicht.
Deutsche Welle: In einem Interview haben Sie gesagt, dass Sie fast erschrocken sind, dass Ihre Heimat plötzlich berühmt ist. Wieso?
Olga Grajsnowa: Weil Aserbajdschan immer ein Land war, von dem man nie etwas vernommen hat. Höchstens Anfang der 1990er Jahre, während des Krieges mit Armenien um Berg-Karabach. Ansonsten kommt das Land überhaupt nicht in den Nachrichten vor. Und jetzt ist es in aller Munde, auf allen Kanälen. Das ist ein sehr merkwürdiges Gefühl. Früher musste ich immer, wenn mich jemand gefragt hat, woher ich komme, stundenlang erklären, wo Aserbajdschan liegt.
Wie war das denn, als Sie 1996 mit elf Jahren Baku verlassen haben und dann 2011 zum ersten Mal wieder in die Stadt kamen? Was für ein Gefühl war das?
Das war auch ein seltsames Gefühl. Manche Orte habe ich wiedererkannt, zum Beispiel das Haus, in dem ich aufgewachsen bin und meine alte Schule, die Innenstadt. Aber es wurde sehr viel gebaut in der Zwischenzeit. Als wir die Stadt verlassen haben, lag sehr vieles brach. Die Infrastruktur war fast vollkommen zerstört. Als ich dann 2011 wieder dort war, war das eine Stadt, in der die Fassaden glitzerten, alles funktionierte. Natürlich hat das alles seinen Preis. Aber die Veränderungen sind rasant. Mit dem, was in den 15 Jahren alles gebaut wurde, ist ein neues Stadtbild entstanden.
Ist das denn wirklich neu oder sind das potemkinsche Dörfer?
Nein, das ist tatsächlich neu. Das sind Häuser, die auch genutzt werden. Viele Veränderungen sind schon vor dem Song Contest entstanden, die Straßen wurden gebaut. Es gab zum ersten Mal so etwas wie Autobahnen.
Man kann also schon die Veränderungen mit Händen greifen, die mit den Petrodollars errichtet wurden?
Ja, durchaus.
Ist denn die Stadt schon im ESC-Fieber?
Leute, die vor Ort sind, berichten, dass alle wahnsinnig gespannt sind, weil die Proben laufen, weil sie rätseln, wer ins Finale kommt. Und man ist gespannt, ob es zu Provokationen kommt, zu Zusammenstößen und Demonstrationen, und ob "Sing for Democracy" [eine Gegenveranstaltung von Menschenrechtlern zum ESC in Baku, Anm. d. Red.] wirklich stattfinden wird.
Sie haben das Regime in Baku unverblümt "total korrupt" genannt. Wie kann man vor diesem Hintergrund den Song Contest unbekümmert genießen? Geht das?
Man kann die ganze Veranstaltung auch musikalisch nicht unbekümmert genießen. Es verhält sich ähnlich wie mit der Fussball-Europameisterschaft in der Ukraine. Das sind immer auch politische Veranstaltungen.
Kann man das trennen?
Meiner Meinung nach nicht.
Vor diesem Hintergrund ist der Song Contest doch eine Bühne für die Machthaber des Alijew-Clans - um sich der Welt so zu zeigen, wie man gesehen werden will, nämlich als aufstrebendes, prosperierendes Land an der Grenze zwischen Europa und Asien...
Oh, ja! Es geht auch darum, möglichst viele Investitionen nach Baku zu locken. Man will zeigen, dass man ein westliches Land ist, in dem Investoren beste Bedingungen vorfinden, um mit Baku Geschäfte abzuschließen. Und ich glaube, dass der Plan aufgehen wird.
Worauf sollte man denn Acht geben und sich nicht irre führen lassen von dem schönen Schein?
Das ist schwer zu sagen. Man muss bedenken, dass es eine Region ist, in der es kein einziges demokratisches Land gibt. Aserbajdschan liegt zwischen Russland, Iran, Georgien und Armenien. Das sind alles Staaten, die kein stabiles demokratisches System vorweisen können. Aserbajdschan ist ein Land, in dem zwar Waffenstillstand herrscht, in dem aber die territorialen Probleme mit Armenien noch nicht gelöst sind. Natürlich müssen Menschenrechte und Demokratie eingefordert werden, aber man muss die Lage und die Konflikte der gesamten Region im Blick haben. Ich glaube nicht, dass sich in der nächsten Zeit die Lage der Menschenrechte bessern wird.
Wie würden sie sich eine Berichterstattung wünschen – zum einen, was den ESC angeht und zum anderen über die Situation in dem Land generell?
Ich würde mir eine differenzierte Berichterstattung wünschen, die mehr in die Tiefe geht.
Die Musik beim ESC haben Sie als "totalen Schrott" bezeichnet. Doch jetzt packt Sie trotzdem das Fieber?
Mich interessiert die Inszenierung, nicht der Grand Prix an sich, sondern wie er politisch instrumentalisiert wird von der Alijew-Regierung. Es wurde so viel Geld hineingesteckt. Ich rechne mit einem Grand Prix der Superlative.
Also noch mehr Glamour und Show als in den vergangenen Jahren?
Das wird wesentlich mehr werden.
Aber die Menschen in Baku: Gehen sie den Trubel mit oder schütteln sie den Kopf über den Zirkus, der veranstaltet wird?
Man muss da unterscheiden: Da gibt es die stupiden Nationalisten, denen sowieso nicht zu helfen ist. Aber bei denen, die vernünftig sind, hat sich längst beißender Zynismus breit gemacht. In ihren Augen ist das alles eine Geldverschwendung, eine Veranstaltung für das Image. Es wird zwar in die Infrastruktur investiert, aber die ist nur für einen Bruchteil der Bevölkerung zugänglich. Für Schulen und Universitäten ändert sich nichts.
Sie werden sich sicher auch mit den Kandidaten beschäftigt haben. Wer ist Ihr Favorit?
Die Türkei. Ich habe mit zwei Freunden, die sich sehr gut mit dem Contest auskennen, alle Clips angeschaut: Ich bin für die Türkei, das sagt mir mein Bauchgefühl.
Wir sind gespannt, welche Eindrücke Sie vor Ort sammeln und freuen uns, wenn wir Sie dann noch einmal interviewen dürfen.
Sehr gerne!