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Der Fall Provenzano gibt viele Rätsel auf

Das Interview führte Nina Rothenberg 19. April 2006

Seine Festnahme sei so beunruhigend wie seine lange Flucht, meint Mafia-Experte Giuseppe Carlo Marino im DW-WORLD-Interview. Wie mächtig war Bernardo Provenzano wirklich? Wie schwer ist die Mafia getroffen?

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Der Mafia-Boss nach seiner Festnahme am 11. April 2006Bild: AP

DW-WORLD.DE: Nach 43 Jahren hat die Polizei den so genannten Boss der Bosse, Bernardo Provenzano, ausgerechnet in der Hauptstadt aller Paten - dem Ort Corleone bei Palermo - gefasst. Dort hielt er sich in einer sehr bescheidenen, fast ärmlichen Hütte auf, aß Schafskäse und Bauernbrot und guckte viel Fernsehen. Nicht gerade der Lebensstil, den man sich von einem Paten erwarten würde.

Giuseppe Carlo Marino: Natürlich nicht, aber für einen Sizilianer ist nichts verwunderlich daran. Provenzano symbolisiert ein kulturelles Bedürfnis nach Macht, das nur die Sizilianer in ihrer ganzen Bedeutung erfassen können. Ein sizilianisches Sprichwort sagt: "Macht ist besser als Sex." Reichtum und Luxus haben für einen Mafioso wenig Bedeutung. Wichtig ist es, Einfluss zu haben - am Schalthebel zu sitzen.

Hat Geld etwa keine Rolle gespielt?

Der Eindruck soll nicht täuschen. Provenzano ist einer der reichsten Männer des Landes. Die meisten Unternehmen in Sizilien zahlten ihm ein monatliches Schutzgeld von 0,8 Prozent ihrer Einkünfte - den so genannten Pizzo. Die Kontrolle des Territoriums ist das wichtigste Ziel der Mafiosi - das spiegelt eine geradezu archaische Lebenseinstellung wieder, die sich aus der historischen Entwicklung der Insel erklärt.

Ist der Zeitpunkt der Festnahme - ein Tag nach den Parlamentswahlen in Italien - Zufall?

Ein Zufall ist das natürlich nicht. Es gibt drei Hypothesen, die diese spektakuläre Festnahme erklären: Die erste besagt, dass die Regierung auf die Stimmen der Mafia nicht verzichten wollte. Die Mafia ist eine bedeutsame soziale Macht in Sizilien und manövriert die politische Konsensbildung. Da wollte man sich keine Stimmen verspielen. Die zweite, dass Provenzano von der Führungsebene der Mafia ausrangiert worden ist. Die dritte, dass Provenzano krank ist und sich von einem Gefängnisaufenthalt eine bessere Zukunft für sich versprochen hat. Er braucht dringend ärztliche Hilfe. Ich denke, dass Provenzano, wie schon vor ihm Totò Riina, der Mann fürs Grobe war, der den militärischen Flügel der Mafia leitete. Die wirklichen Führungsgremien liegen jedoch ganz woanders. Provenzano ist am Ende unhaltbar geworden. Die Mafia hatte selbst ein Interesse an seiner Festnahme. Er war isoliert.

Provenzano war 43 Jahre auf der Flucht - die meiste Zeit auf italienischem Territorium. Unlängst hat er sich sogar in Frankreich wegen Prostatakrebs operieren lassen. Wie ist es möglich, dass sich der meistgesuchte Mann Italiens dem Griff der Ermittler so leicht entziehen konnte?

Seine Festnahme ist so beunruhigend wie seine lange Flucht. Der Mann war 43 lange Jahre angeblich unauffindbar. Derweil lebte er in dieser Hütte in nächster Umgebung seines Heimatortes Corleone. Das bedeutet, dass er von einflussreichen Kräften und von der lokalen Bevölkerung geschützt wurde. Die Frage ist, war Provenzano wirklich der Chef der Mafia? Ich bezweifele das. Er machte die Drecksarbeit, tötete und ließ töten. Die Menschen meinen, dass ein Mafioso ein brutaler Mensch sein muss, der auf einem Haufen Waffen sitzt und seine Todesschergen aussendet. Jemand wie Provenzano passt da gut ins Bild - verroht, ignorant und durch und durch Sizilianer. Das ist jedoch nicht das wahre Anlitz von Cosa Nostra. Da sind hochgeachtete Geschäftsmänner und Politiker mit von der Partie. Leute mit Stil und Bildung und sehr viel Einfluss.

Die Mafia ist das größte multinationale Unternehmen Italiens. Millionen Menschen sind im Süden des Landes von ihr abhängig, arbeiten in ihren Unternehmen, verkaufen und kaufen ihre Drogen, werden von ihr protegiert und gefördert. Was muss der Staat tun, um diese Fesseln zu sprengen und die süditalienische Gesellschaft zu befreien?

Das ist eine sehr schwierige Frage. Eine Lösung kann nur durch eine kulturelle Revolution kommen, die der Staat durch Reformen unterstützen sollte: Investitionen in Bildung, Wohlfahrt und Sicherheit. Da müssen endlich gesunde soziale Loyalitäten zwischen dem Staat und den Bürgern der Region geschaffen werden. So lange sich die breite Bevölkerung nicht auf den Staat verlassen kann, deckt sie die Mafia. Das zu ändern, ist ein sehr komplexer Prozess, für den bisher der politische Wille gefehlt hat.

Aber die Mafia behindert die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung in diesen Regionen. Sizilien, Kalabrien und Kampanien sind die Teile Italiens mit den schwersten wirtschaftlichen Problemen. Über 20 Prozent der jungen Leute sind dort arbeitslos. Die Mafia kontrolliert öffentliche Güter wie Teile der Wasserversorgung und das Gesundheitswesen. Kann die Politik in Rom wirklich effektiv Einfluss nehmen oder sind die Sizilianer selbst Schuld an der Miserie, wie man so oft im Norden hört?

Dieses Argument ist tatsächlich im Norden weit verbreitet. Es ist rassistisch und gründet sich auf dem Verständnis einer grundlegenden kulturellen Überlegenheit der Norditaliener. Das ist Quatsch. Es ist richtig, dass die Mafia Teile des süditalienischen Territoriums fast komplett kontrolliert. Aber im Norden hat sie auch großen Einfluss. Michele Sindona, ein reicher Bankier, der der Mafia nahestand, kam aus Mailand. Die Korruptionsskandale Anfang der 1990er Jahre um Bettino Craxi haben die Infiltration organisierter Kriminalität in Mailand eindrucksvoll dokumentiert. Die Mafia ist ein internationales Phänomen und wird übrigens auch in Europa immer stärker. Supranationale Strategien müssen ausgearbeitet werden. Sizilien darf nicht allein gelassen werden. Auch Deutschland muss da eine Rolle spielen.

Die Regierung Berlusconi ist beschuldigt worden, den Kampf gegen die Mafia vernachlässigt zu haben. Gegen Politiker von Berlusconis Partei Forza Italia und der katholischen Partei UDC wird wegen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung ermittelt. Was ist von diesen Vorwürfen zu halten?

Es gibt keine Parteien mehr, die der Mafia nicht zumindest rhetorisch den Kampf angesagt haben. Mafiosi selbst weisen sich heutzutage oft als Anti-Mafia-Aktivisten aus. Das ist eine wichtige Verteidigungsstrategie geworden. Nicola Tranfaglia und Marco Travaglio haben die Verbindungen von Silvio Berlusconi, seiner Partei Forza Italia und der Mafia in ihren Büchern detailliert analysiert, aber echte Beweise fehlen bislang. Selbst wenn es sie gäbe, hätte Berlusconi im Moment wenig zu befürchten. Als Noch-Regierungschef und baldiger Oppositionsführer kann er rechtliche Schritte gegen sich und seine Partei leicht als politisch motiviert diskreditieren.

Berlusconi hat die Wahlen knapp verloren. Romano Prodi wird im Mai 2006 eine neue Regierung bilden. Glauben Sie, dass der Regierungswechsel Auswirkungen auf den Kampf gegen die Mafia haben wird?

Da bin ich nicht allzu optimistisch. Die Mafia infiltriert die Institutionen des Staates und hat es immer geschafft, Teile des Parteiensystems für sich einzuspannen. In der zukünftigen Regierungskoalition Prodis gibt es Parteien und Personen, die politisch wie kulturell aus dem Substrat der Christdemokratischen Partei kommen - einer Partei, die das Land mehr als 40 Jahre dominiert hat und stark mit der Mafia verästelt war.

Giuseppe Carlo Marino ist Professor für moderne Geschichte an der Universität Palermo und Autor vieler Bücher wie "Storia della Mafia" ("Geschichte der Mafia") und "I Padrini" ("Die Paten"). Er gilt als einer der bedeutsamsten Kenner der Mafia in Italien.