Zurück ins Leben
4. Januar 2010Der Atem ist ruhig, die Bewegungen sind es auch. Gleichmäßig senken und heben sich die Hände vor dem Körper, die Beine stehen breit auseinander. Für gut 40 Frauen und Männer beginnt so der Tag: Mit Qi Gong suchen sie den Einklang von Geist und Körper. Für fast alle ist die chinesische Meditation Neuland. Auch für Frank W., der zwar bereitwillig seine Geschichte erzählen, seinen ganzen Namen aber doch nicht nennen will.
Der 43-Jährige ist seit fünf Wochen Patient im Gezeitenhaus. Bevor er hier hin kam, habe er nur noch "funktioniert", sagt er langsam. "Die Signale, die mir mein Körper geben wollte, sind völlig auf der Strecke geblieben." Als er im September im Supermarkt zusammenbricht, kann er die Zeichen nicht mehr ignorieren. Eine Nacht verbringt er auf der Intensivstation. Eigentlich ist alles in Ordnung, sagen die Ärzte, körperlich. Die Ursache ist eine andere, ahnt der selbstständige Versicherungskaufmann da schon selbst.
Der Druck der Leistungsgesellschaft
"Ich lebe in einer Leistungsgesellschaft – so wie viele, viele andere auch." Und der Druck, den er seit vielen Jahren spürt, ist zuletzt immer stärker geworden. Vor allem der berufliche: Regelmäßig muss er Rechenschaft gegenüber dem großen Versicherungskonzern, für den er arbeitet, ablegen. Die Zahlen müssen stimmen. "Bei mir hat das dazu geführt, dass ich Angst hatte, dem nicht mehr gewachsen sein zu können."
Frank W. weiß, dass er etwas tun muss. Eine Therapie, bei der er sich dem Ursprung seiner seelischen Schmerzen stellt. In seiner 300 Kilometer entfernten Heimat Westfalen findet er aber niemanden, der ihm so schnell helfen kann, wie er sich das wünscht. Zumeist sind die Wartezeiten bis zum nächstmöglichen Termin zu lange. Er entscheidet sich selber für die Klinik im Bonner Stadtteil Bad Godesberg. Im Internet hat er vorher über sie gelesen.
Gerade Jüngere sind betroffen
Im Gezeitenhaus ist die Diagnose schnell gefunden: Frank W. leidet unter dem "Burn-Out-Syndrom". Sein Weg in die Klinik sei nicht ungewöhnlich, sagt Manfred Nelting, Angst und körperliche Symptome seien typische Alarmzeichen. Der Mediziner gründete 2004 das Gezeitenhaus. Menschen zwischen 17 und 87 suchen hier Hilfe. Und schon längst sind es nicht mehr nur Banker und Manager. Auch Studenten kommen, die sich dem Druck einer immer kürzeren Ausbildungszeit nicht gewachsen fühlen. Oder Lehrer, die früh ihre Visionen und Hoffnungen an den Nagel hängen. "Wir sehen ein Auseinanderklaffen zwischen dem Anforderungsdruck, der sich erhöht und beschleunigt, und den Kompetenzen, die jemand mitbringt." Gerade bei jüngeren Menschen sei das so.
Statt eines starren Systems setzt Manfred Nelting bei der Behandlung auf verschiedene Therapiebausteine - und viel Zeit. Den Tagessatz von 400 Euro können sich fast nur privat Versicherte leisten. Damit auch die gesetzlichen Kassen eines Tages zahlen, will er die Nachhaltigkeit seiner Methode wissenschaftlich beweisen. Denn die wenigsten fallen später zurück in alte Verhaltensweisen, sagt der 59-Jährige, der mit seinen schulterlangen offenen grauen Haaren und legerer Outdoor-Kleidung so gar nicht dem Klischee des Klinikleiters im weißen Mantel entsprechen will.
Zwischen Ebbe und Flut entsteht das Leben
Den Namen Gezeitenhaus hat der gebürtige Hamburger mit Bedacht gewählt. Gezeiten seien eindeutig: "Ebbe: wenn sie dauerhaft wäre, würde alles vertrocknen. Bei der Flut würde alles drin ertrinken." Aber im Wechsel der Gezeiten, im Watt, entstünde das Leben. Ein Leben, bei dem Geist und Körper in Einklang sind.
Frank W. ist froh, sich für die idyllisch am Wald gelegene Klinik entschieden zu haben, sagt er am Abend. Ein langer Tag liegt hinter ihm. Ein letztes Mal meditieren, dann vielleicht noch mal daheim bei der Familie anrufen. Frank W. weiß, dass hinter dem Klinikgelände sein altes Leben auf ihn wartet. Ob er in seinen alten Beruf zurückkehrt – mal schauen. Dass sich etwas ändern muss – keine Frage.
Autor: Michael Borgers
Redaktion: Manfred Götzke