Demokratie im Gottesstaat
16. Juni 20051. Wer hat im Iran wirklich die Macht?
Am 1. April 1979 wurde die Islamische Republik Iran ausgerufen, Ajatollah Khomeini übernahm die Macht, das Schah-Regime wurde gestürzt. Laut Verfassung ist der Islam schiitischer Richtung Staatsreligion. Die religiösen Führer (Mullahs) kontrollieren die Justiz und das Militär und stellen religiös legitimierte Staatsorgane wie den Wächterrat und den Revolutionsführer, der mit nahezu unbegrenzter Macht ausgestattet ist.
Die Macht der gewählten Staatsorgane wie Parlament und Staatspräsident ist stark eingeschränkt. Der iranische Publizist Bahman Nirumand hält die Wahlen deshalb für eine Farce. Auch der noch amtierende Präsident Chatami aus dem Reformerlager sei an seiner Machtlosigkeit gescheitert. Der Wächterrat übt zudem Einfluss auf die Wahlen aus, indem er missliebige Kandidaten von vornherein ausschließt.
Johannes Reissner von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) warnt jedoch davor, die religiösen Führer als homogene Gruppe anzusehen. "Im Iran gibt es multiple Machtzentren", so der Iran-Experte. Er kritisiert dabei die "Propaganda" der USA, die den Eindruck erwecke, es gebe auf der einen Seite das "böse Regime" und auf der anderen das "gute Volk", das befreit werden müsse. "Das ist ein Denkmuster aus den Zeiten des Kalten Krieges". Es gebe im Iran zwar Unterdrückung und schlimmste Menschenrechts-Verletztungen. Doch hätten sich viele Menschen, wie beispielsweise die Handels-Bourgeoisie, mit den Herrschenden arrangiert.
2. Wie ist die Bilanz von Staatspräsident Mohammed Chatami?
Der Reformer hat die Präsidentschaft 1997 in einem erdrutschartigen Sieg erobert und ist 2001 wiedergewählt worden. Er kann laut Verfassung nicht für eine dritte Amtszeit kandidieren. Für den Iran-Experten Reissner sind unter Chatami wichtige Fortschritte (auch wenn die Weichen bereits unter Rafsandschanis Amtzeit gestellt wurden) erzielt worden. So sei man bei der Privatisierung vorangekommen. Außerdem kam es zur wichtigen Aussöhnung mit Saudi Arabien (1999) und zu einer Öffnung zum Westen, vor allem nach Europa.
Bei aller Kritik hat der Iran unter Chatami im Ausland ein freundlicheres Gesicht bekommen", sagt Reissner. Dennoch: Innenpolitisch hat Chatami viele Iraner enttäuscht. Für sie hat er seine Versprechen einer politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Öffnung des Landes nicht genügend gegen die konservativen Kräfte im Land durchsetzen können.
Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie ernsthaft die Demokratisierungsbemühungen sind und wie der Stand der Dinge im Atomstreit ist.
3. Wie ernsthaft sind die Demokratisierungsbemühungen?
Die Parlamentswahlen im Februar 2004 bedeuteten einen herben Rückschlag für die Reformkräfte. Der Wächterrat, das oberste Verfassungsgremium der Islamischen Republik, hatte mehr als 2000 reformorientierte Bewerber von den Wahlen ausgeschlossen und verhalf damit den Konservativen zum Sieg. Diese erreichten dann über zwei Drittel aller Sitze. Damit hatte Präsident Chatami seine Fähigkeit, die iranische Politik zu bestimmen, weitgehend eingebüßt. Religiöse Traditionalisten und Nationalisten besetzen wieder die wichtigsten Machthebel. Auch von den Präsidentenwahlen wurden mehr als 1000 Kandidaten ausgeschlossen.
Dennoch könne nicht von einem Ende des Demokratisierungsprozesses gesprochen werden, sagt Reissner. "Die Reformbewegung insgesamt ist ja nicht mit dem Schicksal einzelner Reformpolitiker verknüpft." Viele Beobachter sehen den Wandel der Gesellschaft schon zu weit fortgeschritten, als dass ihn Fundamentalisten noch stoppen könnten.
4. Wie ist der Stand der Dinge im Streit um das iranische Atomprogramm?
Trotz wachsenden Drucks der USA und der EU beharrt die iranische Regierung auf der Entwicklung eines eigenen Atomprogramms. "Hier geht es um eine Frage der nationalen Ehre", sagt Reissner. Man wolle sich nicht vom Westen gängeln lassen und besteht auf dem Recht, als souveräner Staat ein Atomprogramm durchzuführen.
"Ich glaube, es gibt im Iran noch keine endgültige Entscheidung darüber, ob man die Atombombe bauen will oder nicht", räumt Reissner jedoch ein. Israel und die USA warnen schon seit Jahren davor, dass Teheran Atommacht werden will. Der Verdacht ist nicht ganz unbegründet. Im Jahr 2002 wurde eine Anlage zur Anreicherung von Uran entdeckt, die der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) nicht gemeldet worden war. Seit mehr als einem halben Jahr stehen die Anreicherungsanlagen jedoch still, die EU will, dass sie abgeschaltet bleiben und bieten der Regierung im Gegenzug an, die Handelsbeziehungen zu verstärken. Doch die Verhandlungen stocken, weil die USA einer solchen diplomatischen Lösung noch nicht zugestimmt haben. Die EU setzt große Erwartungen in Rafsandschani, der schon jetzt Kontakte mit den USA geknüpft haben soll.
Lesen Sie auf der nächsten Seite, welche die dringendsten innenpolitischen Aufgaben sind, wer der Favorit für die Präsidentenwahl ist und welche die wichtigsten Staatsorgane sind.
5. Welches sind die dringendsten innenpolitischen Aufgaben?
Die Regierung hat vor allem mit hoher Arbeitslosigkeit und Inflation zu kämpfen.
Die Inflationsrate liegt bei 14,8 Prozent. Die Arbeitslosenrate wird zwar offiziell nur mit zehn Prozent angegeben, doch vor allem junge Iraner sehen keine berufliche Perspektive im Land, fast zehn Millionen suchen Arbeit. Weitere wirtschaftliche Probleme sind das hohe Maß an Korruption und Schattenwirtschaft.
Vor allem die Jugend, die fast die Hälfte der gesamten Bevölkerung bildet, ist mit der Situation im Land unzufrieden. Eine Umfrage des Nationalen Vereins der Jugend hat ergeben, dass 44 Prozent der Jugendlichen auswandern möchten. 40 Prozent nannten als Grund fehlende Berufsperspektiven. Doch das geistliche Regime hat bei jungen Iranern vor allem ein Legitimationsproblem. Denn mehr als die Hälfte bezeichnet sich als nur wenig gläubig. "Viele Bevölkerungsgruppen fordern grundlegende Veränderungen", sagte der iranische Publizist Bahmann Nirumand. "Frauen, die in der Männergesellschaft benachteiligt sind, oder Künstler, Schriftlsteller, Journalisten, die von der staatlichen Zensur gegängelt werden."
6. Wer hat bei der Präsidentenwahl die besten Chancen?
Die meisten Experten wollen sich noch nicht auf einen Kandidaten festlegen. Klar ist, dass sich die Iraner einen starken Präsidenten wünschen, der vor allem die wirtschaftliche Situation der Iraner verbessern soll. Der Wunsch nach mehr politischer Freiheit kommt erst an zweiter Stelle. Die besten Chancen hat der frühere iranische Präsident Ali Akbar Haschemi-Rafsandschani. Der 70-Jährige gilt als gemäßigter konservativer Politiker. Er hatte den Posten des Präsidenten bereits von 1989 bis 1997 inne und leitete damals in bescheidenem Umfang soziale Reformen ein.
Rafsandschani, dem während seiner Amtszeit immer wieder eine Verwicklung in internationale Terroraktionen nachgesagt wurde, kann dem Lager der "pragmatischen Konservativen" zugeordnet werden, die sich für ein positives außenpolitisches Engagement, Markwirtschaft und eine milde Auslegung der Moralvorschriften einsetzen. Diese Gruppe stellt jedoch das Prinzip der religiösen Herrschaftslegitimation nicht in Frage.
Zu den pragmatischen Konservativen gehören auch Hassan Rowhani, der derzeitige Verhandlungsführer in Atomfragen oder der frühere Revolutionsgardenchef Mohsen Rezaei. Gute Aussichten im konservativen Lager könnte der frühere Außenminister Ali-Akbar Velayati haben, der zurzeit Ajatollah Ali Chamenei als außenpolitischer Berater dient. Sein Nachteil ist, dass er als Drahtzieher am Mord oppositioneller Kurden im Berliner Lokal Mykonos im Jahr 1992 gilt.
Der Sieg der Konservativen wäre ein weiterer Rückschlag für die Reformbewegung. Als Bewerber aus diesem Lager wird der frühere Erziehungsminister Mostafa Moin von der größten Reformpartei, der Islamisch-Iranischen Beteiligungsfront, genannt. Moin hatte sich 2003 aus der Regierung Chatami zurückgezogen. Er protestierte damit gegen die Massenverhaftungen unter Studenten, die für weitere Reformen auf die Straße gegangen waren.
7. Welches sind die wichtigsten Staatsorgane?
- Der Oberste Geistliche Führer (Wilayat-e Fakih) ist seit Chomeinis Tod im Juni 1989 der ultrakonservative Ajatollah Ali Chamenei. Er ist die nominell höchste Autorität des Landes. Der Geistliche Führer vertritt den Imam Mehdi ("verborgener" zwölfter Imam). Er steht über der Legislative, Exekutive und Judikative, ist zudem Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Er wird vom so genannten Expertenrat (Majlis-e Khobregan) bestimmt, ein seit 1982 existierendes Gremium von 86 Mitglieder, ausschließlich Geistliche.
- Die Islamische Beratende Versammlung ist das Einkammer-Parlament (Majlis-e-Shura e Islami) - es wird alle vier Jahre gewählt. Es gibt 290 direkt gewählte Abgeordnete. Fünf Mandate sind für Angehörige religiöser Minderheiten reserviert. Allen vom Parlament verabschiedeten Gesetzen und Verordnungen muss der Wächterrat zustimmen.
- Der Wächterrat (Shura-e-Nigahban) besteht aus sechs vom Geistlichen Führer ernannten islamischen Rechtsgelehrten und sechs vom Parlament gewählten Juristen. Er wurde 1980 gegründet und prüft, ob die Gesetze und Verordnungen mit den Prinzipien des Islam vereinbar sind. Zudem entscheidet der Rat über die Zulassung der Kandidaten zu Parlaments-, Kommunal- und Expertenratswahlen. Die Prüfung der "spirituellen Eignung" der Kandidaten, dient laut Kritikern vor allem der Ausschaltung politischen Rivalen.
- Der Staatspräsident hat seit den Verfassungsänderungen nach Chomeinis Tod als Vorsitzender der Exekutive eine deutlich stärkere Position als zuvor (das Amt des Premierministers wurde abgeschafft). Er wird für vier Jahre direkt vom Volk gewählt, ernennt die Vizepräsidenten und schlägt dem Parlament sein Kabinett zur Bestätigung vor.
- Dem Staatspräsidenten untersteht der 1989 gegründete Oberste Nationale Sicherheitsrat (Shura-ye Ali-ye Amniyyat-e Melli). Ihm gehören unter anderem Vertreter des Geistlichen Führers, der Vorsitzende der Judikative, der Parlamentssprecher, der Armeechef sowie der Außen-, Innen- und Sicherheitsminister an. Er besitzt weitreichende Funktionen in der Abstimmung der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik mit den ökonomischen und sozialen Entwicklungen im Land.
- Der 34-köpfige Schlichtungsrat (Shura-ye Tashkhis-e Maslahat-e Nezam) wurde 1988 als Schlichtungsgremium zwischen Parlament und Wächterrat eingerichtet. Ständige Mitglieder sind die Führer von Legislative, Exekutive und Judikative, die Mitglieder des Wächterrates und die Minister oder Organisationsleiter aus dem Sachgebiet der jeweils behandelten Angelegenheit.