Demenz verhindert Strafverfolgung
14. September 2012Eine der ranghöchsten Vertreterinnen der kambodschanischen Roten Khmer ist für prozessunfähig erklärt und aus der Haft entlassen worden. Familienangehörige holten die 80-jährige Ieng Thirith am Sonntag (16.09.2012) vom Gelände des UN-Tribunals für Kambodscha ab. Sie leide unter einer degenerativen Nervenkrankheit, womöglich Alzheimer, teilte das Gericht mit. Ein Prozess gegen die frühere Sozialministerin des Regimes der Roten Khmer habe demnach keinen Aussicht auf Erfolg. Bis zur Entscheidung über einen Berufungsantrag der Anklage muss Thirith im Land bleiben, die Behörden über ihren Wohnort informieren und auf Anweisung vor Gericht erscheinen. Zudem "ermahnte" das Gericht Ieng Thirith, nicht mit Angeklagten oder Zeugen des Verfahrens in Kontakt zu treten, und es "ersuchte" sie, nicht mit den Medien zu sprechen. Weiterhin erklärten die Richter, dass die Anklagepunkte gegen Ieng Thirith nicht zurückgezogen würden.
Zuvor hatte die Staatsanwaltschaft Berufung gegen die Freilassung der ehemaligen Sozialministerin Ieng Thirith aus der Untersuchungshaft eingelegt. Das Rote-Khmer-Tribunal hatte zuvor die Freilassung der 80-jährigen Thirith aus gesundheitlichen Gründen angeordnet.
Demente "First Lady der Roten Khmer"
In Kambodschas Öffentlichkeit wurde die Freilassung mit Empörung aufgenommen. Überlebende der blutigen Regierungszeit des Regimes hatten gegen die Entscheidung protestiert.
Ieng Thirith, die unter dem Pol-Pot-Regime von 1975 bis 1979 als "First Lady der Roten Khmer" bekannt wurde, war zuvor wegen Völkermordes, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und schweren Verstößen gegen die Genfer Konventionen angeklagt. Das Tribunal begründete die Freilassung der Angeklagten damit, dass sowohl ihr Lang- als auch ihr Kurzzeitgedächtnis bereits zu weit zerstört seien, um dem Prozessverlauf noch folgen zu können. Sie könne sich nicht mehr mit ihrem Anwalt beraten und auch selbst nichts mehr zu ihrer Verteidigung beitragen.
Bereits Ende 2011 hatte das Tribunal das Verfahren gegen Ieng Thirith aus gesundheitlichen Gründen für sechs Monate unterbrochen. Im August 2012 stellten drei Gutachter fest, dass sie an einer "moderaten bis schweren Form" der Altersdemenz leide, dass sich ihr Allgemeinzustand verschlechtert habe und es keine Aussichten auf Besserung gebe.
"Korrekte Entscheidung"
Internationale Beobachter des Tribunals werten die Entscheidung, Ieng Thirith aus gesundheitlichen Gründen freizulassen, als "korrekt". Die Rechtsexpertin Anne Heindel, eine Beraterin des kambodschanischen Dokumentationszentrums erklärte, das Gericht müsse jetzt entscheiden, ob es überhaupt noch einmal zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens kommen solle. "Wenn es dafür keine Möglichkeit gibt, dann hat das Gericht eine richtige Entscheidung getroffen." Jedoch müsse die Entscheidung der Öffentlichkeit ausführlich erklärt werden.
Ieng Thirith ist eine von vier Angeklagten - alle mindestens 80 Jahre alt -, die sich derzeit für die Verbrechen des Regimes vor Gericht verantworten müssen. Die anderen drei sind Ex-Staatspräsident Khieu Samphan (81), Pol-Pot-Stellvertreter Nuon Chea (85) und Ex-Außenminister Ieng Sary (86), der Ehemann Ieng Thirits. Alle drei sind ebenfalls gesundheitlich angeschlagen, und Prozessbeobachter halten es für nicht ausgeschlossen, dass weitere Angeklagte für verhandlungsunfähig erklärt werden könnten.