Den Horror heilen
30. Juli 2014Das Grauen, das Ziad Musa jeden Tag erwartet, versteckt sich in einem stickigen Büro im dritten Stock eines unscheinbaren Backsteingebäudes im Zentrum von Berlin. Vor der Arztpraxis nebenan rauchen zwei Arzthelferinnen, eine alte Frau tastet sich langsam mit ihrem Krückstock den Gehweg hinunter. Oben sitzt Ziad Musa an einem großen Holztisch auf einem ausgeblichenen Stuhl, die Beine übereinandergeschlagen. Vor ihm steht sein Laptop, in dem sich die Geschichten von Leid und Angst verbergen.
Der Psychologe breitet die Hände aus, als wolle er die ganze Bandbreite von Leid und Grauen abmessen, die täglich in seinem E-Mail-Postfach landet: Menschen, die Familienmitglieder im Krieg verloren haben, andere, die vom Balkon aus gesehen haben, wie Menschen auf der Straße unter ihnen beschossen und zu Leichen wurden, zerstörte Häuser, tote Kinder, Bomben. Und aus Syrien, sagt er, "haben wir jetzt auch noch Folteropfer." Allesamt Menschen also, in deren Seelen sich der Krieg so tief gefressen hat, dass er zu einem Trauma geworden ist.
E-Mail-Austausch mit den Patienten
Von seinem Büro aus im Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin versucht Ziad Musa den Menschen zu helfen. In einem Nebenraum lachen Kinder, vor der Tür stehen bunte Plastiksandalen: Das Zentrum behandelt auch Flüchtlinge, die ihr Trauma mit nach Deutschland gebracht haben. Musa Ziad aber sieht seine Patienten nie: Zusammen mit vier anderen arabischsprachigen Psychologen behandelt er jeden Monat etwa 80 Menschen über das Internet, tauscht lange E-Mails mit ihnen aus, die in Syrien, Gaza, dem Irak oder aber einem der vielen Flüchtlingscamps in Jordanien oder der Türkei leben.
Die Namen seiner Patienten kennt er nicht, auch woher sie kommen, sei für ihn irrelevant, sagt Musa. "Danach fragen wir nicht". Letztlich sei es egal, wer seine Patienten sind - allein das Trauma zähle.
Jeder Krieg schwappt ins Büro
Trotzdem: Jeder neue Gewaltausbruch und Krieg im Nahen Osten macht sich auch irgendwann in Musas Büro bemerkbar: In ein paar Monaten, das weiß er, werden sich wieder mehr Patienten aus dem Gazastreifen registrieren auf dem Internetportal des von der Bundesregierung und dem kirchlichen Hilfswerk Misereor finanziell geförderten Projekts. Nicht sofort, sagt er: Erst drei, manchmal sechs oder mehr Monate nach dem Ende des Krieges merkten Menschen, dass die Symptome des Traumas, die dauernden Angstzustände und Schlafstörungen etwa, nicht abklingen, obwohl die Raketen nicht mehr fliegen und Schüsse nicht mehr die Nacht durchlöchern. "Dann erst merkt man: Vielleicht brauche ich eine Therapie."
Dann finden die Menschen zu ihm. Warum ausgerechnet zu ihm, einem Therapeuten, der weit weg in Berlin sitzt, den sie nie persönlich kennenlernen und mit dem sie nur über E-Mails kommunizieren? Musa setzt an: Schreibtherapien seien mindestens genauso effektiv wie eine persönliche Beratung, "manchmal haben sie sogar eine größere Effektstärke." Denn viele würden nie zu einem Therapeuten gehen - zu groß sei die Hemmschwelle, vor allem bei Fällen von Vergewaltigung und Folter.
Deshalb garantiert das Portal die Anonymität, sagt der Psychologe, der eigentlich anders heißt. "Schreiben Sie Musa, wegen der Geheimhaltung, Sie wissen schon." Das sei wichtig, sagt der Mann, der also Musa heißen soll, damit etwa Menschen, denen in geheimen Gefängnissen Unbeschreibliches angetan wurde, sich offenbaren könnten, ohne Verrat und Repressalien zu fürchten. Manchmal schrieben seine Patienten ihm: "Wenn ich Ihnen jetzt gegenübersäße, könnte ich nicht sagen, was ich gerade schreibe."
"Ganze Generation von Kindern traumatisiert"
Manchen aber bleibt auch keine andere Wahl: In Syrien habe der Krieg jegliche medizinische Infrastruktur zerstört, sagt Jamal Sobh, ein Psychologe aus Syrien, der in Deutschland lebt. Bis vor ein paar Monaten ist er immer wieder in die Rebellengebiete gereist, um Aktivisten zu zeigen, wie sie den traumatisierten Kindern vor Ort auch nur ein bisschen Halt inmitten des Grauens geben können. Doch jetzt, sagt er, sei das mit dem Vormarsch der Islamisten viel zu gefährlich geworden. Manche der Aktivisten sind seitdem verschwunden, viele getötet worden. Er habe versucht, über Facebook mit Kämpfern von Al-Nusra Kontakt aufzunehmen, um ihnen zu erklären, dass Syriens Kinder, die den Krieg erleben, Unterstützung nötig haben. "Aber die haben nie geantwortet." Er seufzt.
Sobh ist besorgt: Die Kinder bräuchten so schnell wie möglich Hilfe, damit das Trauma nicht langfristig ihre Entwicklung hemmt. Er spricht von dauerhaften Angstzuständen, Aggressivität und Aufmerksamkeitsstörungen. Vieles spreche dafür, dass eine ganze Generation von Kindern traumatisiert sei.
Die Sprache verloren
Einen Jungen von den vielen, die er getroffen hat, kann er nicht vergessen: Khalid, ein siebenjähriger Syrer mit Downsyndrom. Sobh hat ihn in einer kleinen, feuchten Wohnung im Libanon getroffen, wohin seine Mutter aus der Altstadt von Homs mit ihren fünf Kindern geflüchtet war. Als die Menschen gegen das Assad-Regime auf die Straße gegangen seien, habe Khalid die Revolutionslieder laut mitgesungen. Doch dann folgten die Bomben und Raketen und inmitten des Krieges habe Khalid seine Sprache verloren. "Heute spricht Khalid kein Wort mehr. Keins!", berichtet Sobh. Khalids Geschichte habe ihn berührt, sagt er, mehr als alle anderen.
Wie er das Leid, mit dem er täglich konfrontiert ist, aushält? In seinem stickigen Büro hält Ziad Musa kurz inne. Natürlich sei das schwierig, vor allem die Fälle aus Syrien. Er blinzelt ein paar Mal, schluckt, setzt dann wieder an: "Aber das ist auch ein Teil meiner Arbeit." Ohne die emotionale Beteiligung könne er auch keine Therapie anbieten. Musa stammt aus Syrien. Seine Familie lebt dort, viele seiner besten Freunde aus der Unizeit sind spurlos verschwunden - und Musa weiß nur allzu gut, was ihnen alles zugestoßen sein könnte: Er kennt die ganze Bandbreite von Grauen und Angst.